In der 15-Minuten Stadt

Seit einigen Wochen nun leben wir in der Stadt. Nach zwei Jahrzehnten Landleben war dies nicht nur eine bewusste Entscheidung für den Ort, an dem wir leben und alt werden wollen, sondern auch die Entscheidung für eine ganz bestimmte Art zu leben: als Stadtmenschen zu leben und eine neue Mobilität zu leben. Inspirationen dazu gab es in den letzten Jahren viele, etwa die Zeit in Buenos Aires, unsere mehrwöchigen Aufenthalte für Straßenkunstauftritte in Berlin oder Bücher wie STADT, LAND, KLIMA von Gernot Wagner. Mit einem Ausschnitt aus seinem Liebesbrief an die Stadt möchte ich hier auch beginnen: Stadt ist vieles: gelebte, ganz alltägliche Vielfalt. Es gibt viel zu tun, viel zu sehen. Viele Sprachen, viele Kulturen. Toleranz gegenüber den anderen. Liberal, urban, weltoffen. Leben und leben lassen – Stadt als Lebenseinstellung. … Stadt ist die Idee, die Einstellung, der Ausblick – nicht nur der Ort selbst.

In unserem Fall war es nicht nur die grundsätzliche Lebensentscheidung, in unsere Geburtsstadt Graz zu übersiedeln, sondern wir haben auch gezielt den Bezirk, das Grätzel ausgewählt. Der Bezirk Lend und insbesondere der Volksgarten direkt vor unserer Haustüre lebt von den Menschen der verschiedenen Sprachen und Kulturen, er ist das Spielzimmer, das Wohnzimmer, das Yoga- und Fitnessstudio, der Konferenzraum, der Picknickplatz … für Menschen jeder Sprache und jeder Hautfarbe. Bei unseren täglichen Wegen gehen wir die ersten und letzten Schritte fast immer durch diesen Park und manchmal fühle ich mich nach Berlin-Kreuzberg (im Kleinformat) versetzt.

Ein weiterer Grund für eine Wohnung in zentraler Innenstadtlage war unsere Vision einer neuen Mobilität ohne Auto, einem Leben in der 15-Minuten Stadt. Im bereits zitierten Buch von Gernot Wagner wurden wir auf dieses Konzept der Stadtplanung aufmerksam. Er selbst lebt in New York City und realisiert dort seine 15-Minuten Stadt, wo sich der Alltag, einschließlich Arbeit und Unterhaltung, innerhalb von 15 Gehminuten von zu Hause abspielt. Paris gilt als moderner Pionier dieses Konzepts, das eigentlich für Großstädte, die schon vor der Erfindung des Autos entstanden sind, nicht besonders neu ist. Carlos Moreno, Smart-City Experte und Professor an der Sorbonne in Paris hat das Konzept entwickelt und einige Städte wie zum Beispiel Oslo, Barcelona, Berlin, Hamburg oder Seoul verfolgen diese Idee bereits. Alles, was die Menschen für ihr alltägliches Leben brauchen, muss demnach zu Fuß in 15 Gehminuten erreichbar sein. In größeren Städten wird dafür jeder Stadtteil zu einer eigenen kleinen Stadt, in kleineren Städten wie Graz ist dies im Bereich der Innenstadt leicht zu realisieren.

Die Vorteile der 15-Minuten Stadt erleben wir bereits täglich: wir gehen auf den Lendplatz zum Markt (7 Minuten), die nächste Apotheke befindet sich auf der anderen Parkseite (3 Minuten), Bioladen, Frisiersalon, Buchhandlung, Trafik, Drogeriemarkt, Änderungsschneiderei sowie mehrere Lebensmittelgeschäfte erreichen wir in maximal 10 Minuten. Ja, wir sind auch wählerisch und gehen zu unserer Lieblingsbäckerei auf den Hauptplatz (15 Minuten). Wollen wir unseren Radius für alltägliche Einkäufe erweitern, dann steigen wir nach 5 Minuten Gehzeit in die Straßenbahn, um nach weiteren 10 Minuten Fahrzeit beim Bio-Wochenmarkt oder im Bio-Supermarkt anzukommen. 

Doch nicht nur unsere täglichen Erledigungen, auch Freizeit und Erholung lassen sich in unserer 15-Minuten Stadt realisieren: es gibt in diesem Radius ein Kino, ein Konzerthaus,  mehrere Museen und Theater, Bibliotheken, ein Städtisches Bad, unzählige Lokale, die Murpromenade und die „Talstation“ der Schlossbergbahn – mit welcher wir im Nu und mit Blick über Graz mitten im Grünen sind.

Die Stadt Graz setzt klare Akzente für die Realisierung der 15-Minuten Stadt: es gibt nicht nur eine Beschreibung dazu auf der Website Nachhaltig in Graz, sondern seit kurzem auch im gesamten Innenstadtbereich Wegweiser, die nicht nur der Orientierung dienen, sondern die Entfernungen in Gehminuten angeben.

Und weil sich unser Leben und Arbeiten nicht nur in Graz abspielt, sondern wir mit dem Tango „von Kroatien bis Norddeutschland“ unterwegs sind: in 10 Gehminuten sind wir am Hauptbahnhof, um ab nun per Bahn zu unseren Kursen und Workshops nah und fern zu reisen.

Und so schließt sich der Kreis – wir lieben das Gehen nicht nur im Tango, sondern auch im Alltag. Ich erlebe es als befreiend, mich zu Fuß durch die Stadt zu bewegen. Und so sind diese Zeilen – nach dem Liebesbrief an die Stadt von Gernot Wagner am Anfang – mein Liebesbrief an die Stadt, in der wir jetzt leben, an das Stadtleben, an unser Leben als Stadtmenschen.

Sigrid

Verwendete Literatur:
Stadt, Land, Klima, Gernot Wagner, Christian Brandstätter Verlag
Weitere Quelle:
https://nachhaltig-in-graz.at/die-15-minuten-stadt/   

11 Kommentare zu „In der 15-Minuten Stadt“

    1. Danke für dein „Willkommen“. Nun leben wir ja in der selben Stadt und sehen uns vielleicht auch mal in echt – nicht nur virtuell, wenn du dich so wunderbar um unsere Website kümmerst.

      1. Was Du so schön und sehr spürbar skizzierst, ist das humanistische Bedürfnisfeld, in dem das , was uns Menschen ausmacht herausgeschält wird. Wieviele Tonnen an Beton in Schlafstädten und industriellen Einkaufsmeilen wurden/ werden über Jahrzehnte über die Seelen geschüttet. Schön, dass ihr so ein Vierter`l gefunden habt und genießen könnt. Mit Euch der Tango, der Puls des Lebens.
        Alles Gute wünschen wir Euch A und K

  1. Ich kann dem zu Fuß gehen auch ganz viel abgewinnen, das Erkunden von Stadt/Land/Menschen wird dadurch unglaublich intensiviert… Es ermöglicht das Innehalten, Eintauchen und „Aufsaugen“… Ich verfolge euren Newsletter schon länger mit Interesse, hab euch vor vielen Jahren mal im Sommer zur Zeit von La Strada tanzen gesehen u in Opatija schon ein paar Mal am Lungomare beim Spazieren… Ans Tango-Tanzen hab ich mich noch nicht herangewagt… vielleicht passt es ja mal in Graz!?

    1. Ist das aber nett, wenn du uns wiedermal siehst, dann sprich uns bitte an!
      Mit deiner Beschreibung vom zu-Fuß-gehen bist du übrigens schon mitten in der Welt des Tango Argentino – innehalten, aufsaugen und eintauchen in den Tanz, in die Musik. Vielleicht magst du es mal – als Einstieg – mit SOLO TANGO versuchen? Wir würden uns freuen, dich kennenzulernen. Andrea & Sigrid

  2. Willkommen in der Langsamkeit! Ich kann euer Konzept gut nachempfinden hab es lange Zeit in Wien gelebt, bin aber jetzt in der anderen Richtung, endlich mit e- bike ganz schön flott unterwegs.

    1. Ja, es ist ein Schritt in die Langsamkeit – sehr wohltuend! Dass du in die andere Richtung unterwegs bist, würden wir aber nicht so sagen, denn du lebst diese Mobilität ohne Auto seit Jahren am Land, und das ist viel herausfordernder. Dass du nun mit dem e-bike deinen Radius vergrößerst, ist da nur passend und stimmig. Liebe Grüße aus der Stadt, Andrea & Sigrid

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