Vor kurzem waren wir eingeladen, bei einem 60er-Fest einige Tangos zu tanzen. Danach sprach uns eine Frau an und meinte, unser Tanz sei etwas ganz Besonderes, weil das Führen und Folgen bei uns ganz auf Augenhöhe passiere. Wir freuten uns sehr über dieses Feedback und nehmen es zum Anlass, in diesem Blogartikel unsere Gedanken über einen ganz wesentlichen Aspekt des Tangotanzens zusammenzutragen – und zwar indem wir diesen Artikel gemeinsam schreiben: ich, Sigrid, aus der Sicht der Führenden, Andrea aus der Sicht der Folgenden.
Nun, mit diesen beiden Begriffen sind wir schon mitten in jenem Zwiespalt, der beim Tangotanzen oft zu spüren ist: Führen und Folgen klingt nach Hierarchie und wird nicht zufällig oft mit dem Machogehabe so mancher Tangueros assoziiert. Und nicht selten wird die Rolle des Führens als die dominante Rolle, die alles vorgibt, interpretiert. Da werden dann manchmal tatsächlich die Worte „du wirst gezwungen …“ verwendet. Umso spannender fand ich vor Jahren die Definition, die wir von den beiden Lehrern Maurizio Ghella und Martin Maldonado gehört haben. Sie sprachen vom „Proposer“, also dem, der vorschlägt und vom „Interpreter“, der die Impulse interpretiert und gestaltet. Dieser Ansatz hat wohl wesentlich dazu beigetragen, unseren Tanzstil so zu entwickeln, dass wir tatsächlich auf Augenhöhe miteinander tanzen. Aber was heißt das eigentlich?
Da der Argentinische Tango ein Improvisationstanz ist, bei dem es keinen Grundschritt und keine Figuren und fixen Abfolgen im üblichen Sinn gibt, ist es notwendig, dass es zu einem Dialog der beiden Tanzenden kommt, in dem die Person in der Führungsrolle durch körperliche Signale anzeigt, welche Schritte und Bewegungen gemeinsam ausgeführt werden. Als Führende lasse ich also den Tanz zuerst in meinem Kopf entstehen. Ausgehend von der Musik, vom Raum und von den vorhergehenden Bewegungen setzt sich der Tanz immer wieder neu zusammen. Es ist ein gemeinsames Interpretieren der Musik und ein spannendes Zwiegespräch ohne Worte. Denn es sind nicht nur meine Ideen, die den Tanz entstehen lassen, sondern durch die Interpretation und Gestaltung dieser Signale durch die folgende Person ergeben sich neue Impulse.
Sonst könnte man ja auch nicht von einem Dialog sprechen, sondern es wäre eher ein Monolog – womit wir wieder beim Machogehabe angelangt wären. Die Aufgabe der/des Führenden ist es, klar und deutlich zu kommunizieren. Einer unserer ersten Lehrer, Clemens Mazza, sagte gleich zu Beginn: „Wenn etwas nicht funktioniert, dann sind immer die Führenden schuld!“ Das klingt zwar hart, aber letztlich stimmt es: wenn die Folgende nicht weiß, was ich mit dem Signal gemeint habe, dann ist ein gemeinsames Tanzen kaum möglich. Deshalb gehört es wohl auch zu den Aufgaben der führenden Person, Ruhe und Sicherheit zu vermitteln und klare Entscheidungen zu treffen. Da ist das Führen im Tango für mich zum Beispiel oft eine Lebensschule, denn im Alltag bin ich nicht gerade sehr entscheidungsfreudig, sondern wäge alles lange ab. Beim Tanz ist dafür kein Raum: wenn ich nicht klar zeige, wie und in welche Richtung der nächste Schritt gesetzt werden soll, dann können wir nicht gemeinsam weitertanzen. So ist es für mich immer wieder eine neue Herausforderung, einen Tanz zu führen und dabei in einen Dialog zu treten.
Ich, Andrea, liebe die Rolle der Folgenden im Tango. Ich liebe es, mich fallen zu lassen, mich der Musik hinzugeben, mich überraschen zu lassen, den Kopf zu leeren, nur zu spüren … Ich liebe es dann, wenn ich das Gefühl habe, es ist ein gleichberechtigter Dialog, der sich im Laufe des Tanzes entwickelt – ein Geben und Nehmen von beiden Seiten, ein achtsames Aufeinander-Eingehen.
Sich führen zu lassen, bedeutet auf keinen Fall Unterwerfung, sondern braucht Selbstbewusstsein, damit dieser Dialog gelingen kann. Es ist sicher auch von Vorteil, die andere Rolle zu kennen. Für mich ist es jedes Mal sehr spannend, das Führen auszuprobieren und dabei zu merken, wie schwer es ist, präsent zu sein und klare körperliche Impulse zu geben. Aber diese Erkenntnisse kann ich dann auch beim Folgen in den Tanz einfließen lassen. Denn wenn ich auch als Folgende präsent bin und klar kommuniziere, wird es eine Begegnung auf Augenhöhe.
Sigrid und Andrea