Gibt es Tango – Weihnachtsmusik?

In vielen Genres gibt es eigene Musikstücke für Weihnachten, die meist schon Tage und Wochen vor dem Fest erklingen. Ich denke an weihnachtliche Gospels oder traditionelle Volkslieder, alte Madrigale oder die Weihnachtshits der Rock- und Popmusik. Letztere werden in unseren Breiten bekanntlich in Geschäften und Lokalen und sämtlichen Radiosendern so häufig gespielt, dass man sie am liebsten gar nicht mehr hören möchte – oder wie steht es mit deiner Vorliebe für Last Christmas … ? Während ich das schreibe fällt mir übrigens auf, dass ich diesen Song heuer noch gar nicht gehört habe – dieses Glück hatte ich bisher nur einmal, nämlich vor drei Jahren, als wir ab Mitte November in Buenos Aires waren und dort eine gänzlich andere Advent- und Weihnachtsstimmung erlebten. Und Buenos Aires ist auch schon das Stichwort für die Frage, die diesem Artikel zugrunde liegt: Gibt es auch im Genre Tango eigene Musikstücke für die Weihnachtszeit?

Nun, ich habe bisher keinen Tango gehört, in dem die Worte felicidas festas oder navidad* vorgekommen wären, würde mich aber nicht getrauen, deshalb diese Frage mit hundertprozentiger Sicherheit zu verneinen, denn so sehr ich Tangomusik liebe und mittlerweile schon viele Stücke kenne, so ist die Welt der Tangomusik zu groß, um alles kennen zu können. Bei genauerem Nachdenken, Hinhören und Hineinlesen in die Texte fällt mir aber ein ganz wesentlicher Aspekt auf, der bei vielen Tangos auftaucht und der doch ganz nahe an die modernen Weihnachtslieder aus Pop und Rock kommt: Im Tango geht es um die „großen Gefühle“ – um Liebe, Sehnsucht, Schmerz, Verlassen werden, Liebeskummer, …

Der Text von Last Christmas wäre da nicht unpassend:
Last Christmas, I gave you my heart
But the very next day, you gave it away
This year, to save me from tears
I’ll give it to someone special

So weit, so gut. Aber mir geht es ja um den Tango, also auch um die Tangotexte. Die Texte sind eigentlich Gedichte, die älteren davon im Dialekt Lunfardo, der in den Hafenvierteln von Buenos Aires gesprochen wurde. Aber auch die Texte auf Spanisch sind oft schwer zu übersetzen, will man nicht nur die Worte, sondern die Stimmung vermitteln. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an eine Begegnung mit einem alten Herrn in Buenos Aires. Wir waren zum Tanzen ausgegangen und saßen neben ihm. Lange Zeit tanzte er nicht, sondern sang die jeweiligen Tangos mit. Er fragte dann, ob uns die Texte auch so gut gefallen und war ganz verwundert, dass wir sie ja gar nicht verstehen, weil wir die Sprache nicht so gut beherrschen. Erstaunt frage er, wie wir dennoch den Tango lieben können. Für ihn gehörten Musik und Text untrennbar zusammen und erst in jenen Tagen, als er schon über 70 Jahre alt war, lernte er das Tangotanzen. Seine Frage hat mich veranlasst, immer wieder Übersetzungen anzuschauen und so in die Welt der Tangotexte einzutauchen.

Manchmal erlebe ich dabei eine ziemliche Überraschung, zum Beispiel bei dem Tango Vida mia: Die Melodie klingt romantisch, beim Zuhören und Tanzen habe ich das Gefühl nicht nur Sehnsucht und Liebe sondern auch Geborgenheit, Nähe und Erfüllung zu spüren. Der Blick auf den Text enthüllt aber einen Tango über die Sehnsucht nach dem geliebten Menschen und über den Schmerz, die Trennung, die Einsamkeit:

Mein Leben
Aus der Ferne liebe ich dich mehr.
Mein Leben, denk an meine Rückkehr.
Ich weiß, dass man für Gold deine Küsse nicht haben kann …
Und ich wünsche mir, dich zu halten
An meine Seite gebunden
Und so zu ersticken
Meine Einsamkeit.

Und da bin ich, fast möchte ich sagen „leider“, schon wieder bei Last Christmas, einem romantisch-schmalzigen Ohrwurm über eine unglückliche Liebe …

Tangotexte erzählen zwar häufig, aber doch nicht ausschließlich von enttäuschter Liebe. Die Sehnsucht, die Hoffnung und Erwartung wird immer neu besungen und durch die Musik verstärkt. So etwa bei einem der ganz berühmten Tangos, der in den Goldenen Jahren von Carlos Gardel gesungen wurde und seither sozusagen „sein Tango“ geworden ist:

El Dia que me quieras / Der Tag an dem du mich liebst

Am Tag, an dem du mich liebst
Wird die Rose sich schmücken
Und sich feierlich kleiden in den schönsten Farben.
Und Glockenläuten zum Wind
Um zu sagen, dass du nun mir gehörst …

Am Tag, an dem du mich liebst,
Wird es nichts als Glück geben. …
Das Leben wird blühen
Und es wird kein Leid mehr geben.

Mit einem Text, der in ganz anderer Weise über die Sehnsucht nach Liebe spricht, beschäftigen wir uns derzeit intensiv beim Erarbeiten eines neuen wo/men tango acts. Der Text der Balada para un loco zur Musik von Astor Piazzolla stammt von Horacio Ferrer, einem der ganz großen Tangodichter. Die Sehnsucht nach Liebe kann uns ja wirklich manchmal verrückt werden lassen …

Liebe mich, so wie ich bin,
verrückt, verrückt, verrückt,
mach den Weg frei für die Liebe, so dass wir die verrückte Magie des Lebens
noch mal versuchen werden …

So komme ich zur Erkenntnis, dass es keinen Weihnachtstango braucht, um einzutauchen in die Sehnsucht nach Liebe und die Magie des Lebens, von der viele gerade in diesen Tagen träumen. Denn eigentlich geht es dabei ja nicht um Weihnachten, um diese wenigen Tage im Jahr, die manchmal gar so überhäuft sind mit Sentimentalität. Es geht um unsere Sehnsucht als Menschen, zu lieben und geliebt zu werden, an jedem Tag des Jahres. Und davon erzählen viele Tangotexte – egal, wann wir sie hören.

Sigrid

* Im Dezember 2020 sind wir bei der Recherche für die Reihe Tango del dia gleich auf mehrere „Weihnachtstangos“ gestoßen. Jeweils mit einem Klick direkt zum Reinhören:
Una Feliz Navidad, Juan D’Arienzo
Navidad, Osvaldo Pugliese
Navidad, Francisco Canaro

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