Klassische Musik und Tango Argentino – Astor Piazzolla war der erste, der diese beiden Stile vereint hat. Seine konzertanten Werke des Tango Nuevo übernehmen Form und Methodik wie wir sie aus klassischen Werken kennen, etwa seine Oper Maria de Buenos Aires und Die Vier Jahreszeiten von Buenos Aires, und die Fugentechnik, die sich in vielen seiner Werke wiederfindet. Er hat damit nicht nur die Tangomusik auf die Bühnen der Welt geholt, er war wegweisend für nachfolgende Komponistinnen und Komponisten.
Einer davon ist der Komponist und Dirigent Martin Palmeri, geboren in Buenos Aires. Viele seiner Werke, darunter Opern, Oratorien, Chor- und Orchesterkompositionen sind von der Form und Harmonik des Tango Nuevo inspiriert. In seiner Misa a Buenos Aires, oft als Misa Tango bezeichnet, 1995 komponiert, verbindet er Stilelemente verschiedener Kulturkreise – melodisch und rhythmisch dem Tango Nuevo und seinem Vorbild Astor Piazzolla verpflichtet, verwendet er gleichzeitig die Formensprache der sakralen Musik und den lateinischen Text von Messvertonungen.
Kürzlich wurden wir angefragt, ob wir bei einer Aufführung der Misa Tango in Wien Teile daraus vertanzen würden. Wir waren überrascht, hatten wir doch bis dahin nicht einmal gewusst, dass es eine Tangomesse gibt. Vor allem aber waren wir neugierig und machten es uns eines Abends gemütlich, um die Musik anzuhören.
Gemütlich war es aber nicht wirklich, denn bald schon waren wir gefesselt und fasziniert von dieser Spannung der Musikstile, von der Kraft dieser Musik. Am Beginn noch ganz den typischen Elementen einer Messvertonung mit Fugen im Kyrie verpflichtet, dringt der Tango Nuevo immer mehr ins Zentrum dieses Werkes. Nicht nur die Instrumentalteile – mit Klavier, Streichquintett und Bandoneon ganz dem Tango Nuevo entsprechend – sondern auch im Chorgesang fanden wir uns zugleich in der Welt des Tangos und der Kirchenmusik. Die Musik ist in die Tiefe gegangen und hat uns tagelang begleitet, nicht mehr losgelassen und danach verlangt, vertanzt zu werden! Wir entschieden uns für mehrere kurze Passagen, als „getanzte Blitzlichter“ in die Darbietung eingefügt, um dem Hörgenuss eine zusätzliche optische Komponente zu verleihen. Einmal war dies eine ruhige, getragene Sequenz, beinahe wie eine Meditation, dann wieder dynamisch und akzentuiert, ein andermal folgten wir dem großen Melodiebogen der Solostimme, trugen ihn weiter in einem Instrumentalteil, bis der Chor diesen Bogen wieder aufgriff.
Schon in der Vorbereitung waren wir hingerissen von dieser Kraft, bei der Aufführung am Sonntag, dem 11. Juni in Wien, konnte sich diese Tangoenergie voll entfesseln: die beiden Chöre Choriandoli und Musica Viva Wien, die Sopranistin Ayana Takahashi, Algy Wu am Bandoneon und Mario Eritreo am Klavier wurden von der Dirigentin Sabine Federspieler auf beeindruckende Weise durch dieses Werk geleitet. Wir fügten uns ein und konnten diesem Hörgenuss auch noch den Tanz, das Sehen, das Eintauchen in die Bewegungen des Tango Argentino hinzufügen. Ich wage zu behaupten, dass ein Gesamtkunstwerk entstanden ist – und die Begeisterung des Publikums bestärkt mich in dieser Wahrnehmung.
Wie so oft ist ein tiefer Kunstgenuss auch ein flüchtiger: es gibt keine Aufnahme, kein Video von diesem Abend, die ich hier einfügen könnte. Doch jene Darbietung der Misa Tango, die uns am Anfang dieses Projektes, in der Vorbereitung, so fasziniert hat, soll hier den Schlusspunkt setzen. Es lohnt sich, hinein zu hören oder womöglich auch darin zu versinken und Tangomusik in einer ganz neuen Form zu begegnen:
Sigrid
euer Artikel trifft für mich nocheinmal „den Nerv“ dieser besonderen Aufführung. Danke.
Töne, verstärkt durch die getanzten Bewegungen schraubten sich immer tiefer und tiefer in mich hinein, klangen in mir.
Ich staune über die Intensität des Erlebens!
🙂
Hatte das Glück, von Anja mitgefilmte Sequenz Eures Tanzes zu sehen und bewundere die geschmackvolle Innigkeit und Feierlichkeit Eurer Bewegungen.
Susanne
Oh, also gibt es doch eine Aufnahme … danke für dein Feedback! Andrea & Sigrid