Beschauliche Orte mitten im Verkehrslärm

Nahe dem Halleschen Tor und damit unserer Wohnung gibt es eine laute, stets stark befahrene Kreuzung. Zwei Straßen mit je vier Fahrspuren und die U-Bahn auf der Hochflurtrasse aus Stahl bilden die Kulisse. Wir überqueren diese Kreuzung häufig auf unseren alltäglichen Wegen. An einem frühen Nachmittag der letzten Woche sind wir einfach zu einem kleinen Spaziergang aufgebrochen und haben unerwartete Entdeckungen gemacht.

Unser Weg führte uns zuerst in die historischen Friedhöfe am Halleschen Tor. Hinter der Mauer des „Kirchhofes“, wie es hier heißt, sind wir eingetaucht in eine üppig grüne, andere Welt. Nie zuvor habe ich auf einem Friedhof so viele grüne Freiflächen, sehr alten Baumbestand und blühende Sträucher gesehen. Die Grabstätten liegen verstreut in dieser grünen Insel und viele davon sind sehr alt. Zahlreiche große Familiengräber aus dem 19. Jahrhundert, darunter auch das Grab von Felix Mendelssohn-Bartholdy, dazwischen kleinere Gräber aus dem vorigen Jahrhundert. Der Verkehrslärm schwappt zwar über die Mauer in diese melancholische Idylle, aber er kann die dichte, intensive Atmosphäre hier nicht wirklich stören.

Wir verlassen den Friedhof und treten auf den Mehringdamm, ebenso eine laute, vierspurige Straße. Nach wenigen Metern erblicken wir durch eine Glasfront die Regalreihen einer Bibliothek. Wir gelangen zum Haupteingang der Amerika Gedenkbibliothek und tauchen wieder in eine stille Welt ein. Diesmal aber ist es eine Stille inmitten von unzähligen Menschen und abertausenden Büchern. Wir schlendern an den Regalreihen entlang, nehmen hier und dort ein Buch heraus, um einen Blick darauf zu werfen und sind fasziniert von dieser Fülle. Es herrscht reges Treiben hier, aber die Menschen sind nicht aufeinander bezogen, sondern in Bücher, Computer oder Zeitschriften vertieft. Leise Gespräche bilden eine zarte Hintergrundmusik. Es fällt uns schwer uns von dieser Welt loszureißen und wir nehmen uns vor, demnächst hier einen ganzen Nachmittag zu verbringen.

Unser Spaziergang geht weiter durch den Blücherpark, einer kleinen Grünfläche inmitten dieser stark befahrenen Straßen. Am Wochenende lagern hier unzählig viele Familien aus den umliegenden Wohnblöcken, sie treffen sich hier zum Picknick oder zum Grillen. Die BerlinerInnen – egal ob alt eingesessen oder zugewandert – lieben ihre Parkanlagen und verteidigen diese Freiflächen um jeden Preis. An diesem Nachmittag sitzt hier, beinahe verloren auf der großen Rasenfläche, nur eine Familie. Der Grill ist angeheizt, das Fleisch schon aufgelegt. Hört man hier Verkehrslärm? Gibt es hier irgendetwas Störendes oder hat diese Familie ihr Paradies im Großstadtdschungel gefunden?

Wir verlassen den Park und überqueren die Zossener Straße. Gleich gegenüber der Parkanlage liegt die Heilig-Kreuz-Kirche, ein mächtiger Backsteinbau mit einer riesigen Kuppel. Auch dieser Ort der Stille hat eine seine eigene Ausstrahlung. Aus Stahl und Holz wurden Treppen und eine Galerie eingezogen, sodass man bis zur Orgel und hinauf bis zu den runden Fenstern der Querschiffe gelangen kann. Doch für uns ist er ein ganz besonderer Platz: Beim QueerTango-Festival im Sommer 2011 hat hier, in dieser Kirche, die Gala-Milonga stattgefunden. Vor unseren inneren Augen sehen wir diesen Raum also auch in einer ganz anderen Weise. Die Erinnerung an jene Tangonacht ist noch so lebendig, weil es eine der ersten Gelegenheiten war, in denen wir den Tango ganz intensiv erlebt haben. Augusto Balizano, der während unseres Aufenthaltes in Buenos Aires unserer Lehrer war, hat in jener Nacht mit Claudio Gonzalez einen Tango getanzt, der uns damals schon überwältigt hat. Und jetzt stehe ich hier in dieser Kirche und sehe nicht mehr die Sitzgelegenheiten und den Altar mit seinen Blumen, sondern tauche ein in die Welt des Tango. Von diesem Tanz gibt es ein Video auf youtube – falls du sehen möchtest, was ich gerade vor meinem inneren Auge sehe: Hier zum Video

Wir verlassen auch diesen magischen Ort, am Verkehrslärm draußen hat sich nichts geändert, und kehren zurück in den Alltag der Großstadt. So nah beieinander hat so Gegensätzliches Platz. Vielleicht wieder einmal ein Hinweis, nicht im Schema von „entweder – oder“ sondern in jenem von „sowohl – als auch“ zu denken.

Sigrid

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