Ein Tanzkörper werden

Einer der unzähligen Versuche, Tango Argentino zu beschreiben, lautet: die Tanzenden sind ein Körper mit vier Beinen. Ich stimme dieser Aussage zu und möchte anfangs auch bei diesem Aspekt verweilen, bevor ich den Satz weiterführe, denn ein Tanzkörper kann auch viel mehr Beine haben. Doch davon später. 

Tatsächlich gibt es im Tango Argentino diese Momente der tiefen Verbundenheit zweier Menschen während eines Tanzes und manchmal ist dieses Einswerden auch nach außen hin sichtbar. Dafür ist es nicht einmal zwingend notwendig, einander zu kennen – es gibt diese magischen Tanzerlebnisse auch mit fremden Menschen oder Personen, mit denen man noch kaum getanzt hat. Die Voraussetzung, die es braucht, um ein Tanzkörper werden zu können, ist, sich ganz aufeinander und auf das Spiel des Führens und Folgens einzulassen und dabei beide Rollen als gebend und nehmend, als gleichwertig zu verstehen. Diese Erfahrung machen wir nicht nur in unserem eigenen Tanz, wir beobachten dies auch immer wieder während des Seminars Führen und Folgen auf Augenhöhe.   

Kürzlich zum Beispiel hat ein Paar aus Deutschland teilgenommen, das ganz offen von der Herausforderung, die der Dialog im Tanz birgt, gesprochen hat. Bei bisherigen Kursen hätten sie vielfach gelernt, WAS sie alles tanzen könnten, aber nicht WIE sie miteinander kommunizieren können. Jetzt wollten sie ein letztes Mal versuchen, ob es gelingt, dass sich beide im Tanz wohlfühlen. Sie haben sich voll und ganz darauf eingelassen und es war faszinierend zu beobachten, wie sie mehr und mehr ein Tanzkörper wurden, wie fließend ihr Tanz wurde und wie sehr sie Harmonie und Leichtigkeit ausstrahlten. Beim Verabschieden sagten sie „bis zum nächsten Mal!“ und somit war klar, dass sie ihren Tangoweg weitergehen wollen. 

Weil Begegnung, Dialog und dieses Eins-werden als Tanzkörper wesentliche Bestandteile des Tango Argentino sind, möchten wir diese Themen auch in unserem Workshop Solo Tango erfahrbar machen, obwohl  jede und jeder für sich – im freien Tanz in der Gruppe – Tango tanzt. Einer der drei Teile des Workshops ist daher eine Choreographie, die wir als Gruppe gemeinsam tanzen. Dabei werden nicht nur typische Tangobewegungen durch häufiges Wiederholen eingeübt, sondern es entsteht ein intensives Tanzerlebnis als Gruppe – und somit das Gefühl, ein Tanzkörper zu sein, mal mit 20, mal mit 30 oder mehr Beinen. 

Doch zurück zum Tanz im Paar, denn auch hier gibt es den spannenden Aspekt, dass ein Tanzkörper sich auf eine Gruppe ausweitet und -zig Beine haben kann. Wenn die Tanzpaare auf einer Milonga ihre Runden drehen, dann tun sie dies nicht abgekapselt, jeweils für sich allein, sondern in einem größeren Miteinander. Am Beginn eines Tanzes fügt sich jedes Paar in den Kreis der Tanzenden ein, der Abstand zwischen den Tanzpaaren bleibt idealerweise gleich und alle bewegen sich gemeinsam gegen den Uhrzeigersinn auf der Tanzfläche. Somit beeinflusst der Tanz des Paares davor bzw. dahinter den eigenen Tanz. Raum zu geben und Raum einzunehmen ist also nicht nur im Spiel von Führen und Folgen innerhalb eines Paares ein wesentlicher Aspekt, sondern Teil eines respektvollen Umgangs auf einer Tango-Tanzveranstaltung.

Ja, natürlich weiß ich, dass dies leider nicht immer und überall beachtet und umgesetzt wird. Umso mehr gilt es, selbst diesen Punkt zu beachten und andere darauf hinzuweisen, wie bereichernd es für alle Tanzenden ist, wenn wir ein Tanzkörper werden – mit wie vielen Beinen auch immer.  Als wir dies kürzlich in einer Kursstunde zum Thema machten, waren die Teilnehmer*innen überrascht, wie sehr diese Struktur eine merkliche Ruhe bringt und das eigene Tanzen stressfreier wird. So zeigt sich einmal  mehr, dass diese „ungeschriebenen Regeln“ in der Welt des Tangos wirklich Sinn machen und sich nicht zufällig entwickelt haben.  

Zum Abschluss möchte ich noch von einer Outdoor-Milonga mit Livemusik, die wir kürzlich in Graz besuchten, berichten. Weil die Tanzfläche winzig klein war – jedes Paar hatte gerade mal einen Quadratmeter für seinen Tanz – wirkte sich der Tanz des Paares vor bzw. hinter uns noch direkter auf unsere Improvisation aus. Ein schneller Schritt, eine Verzierung, eine Pause der anderen gab neue Impulse für den Dialog in unserem Tanz. Verstärkt wurde dies noch durch die wunderbare, stark akzentuierte Musik von Christian Bakanic mit seinem Trio Infernal  und der Sängerin Paula Barembuem – sie wurden Teil unseres Tanzkörpers, sie gaben die Impulse für die Bewegungen oder die Tanzpausen auf dieser Mini-Tanzfläche und am Ende jedes Musikstückes war es wie ein Auftauchen aus einer anderen Welt, aus einer Versunkenheit im Paar, diesem Tanzkörper mit vier Beinen und dem größeren Tanzkörper mit seinen vielen Beinen, den Händen der Musiker und der Stimme der Sängerin. Ein Tanzkörper im Tango Argentino kann also vielfältig und in besonders magischen Momenten unendlich groß und weit und tief sein! 

Sigrid   

2 Kommentare zu „Ein Tanzkörper werden“

  1. Gabriele Brandhuber

    Das klingt wunderschön. Ich werde meinen Partner wieder einmal fragen, ob er sich auch einmal darauf einlassen mag. Herzliche Grüße, Gabi

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