Klassische Tango-Orchester, Teil 2

In diesem Artikel möchte ich nun drei weitere Tango-Orchester mit entsprechenden Musikbeispielen vorstellen, und wieder einladen, sich bewusst aufs Hören einzulassen. „Hören Sie mit jeder Zelle Ihres Körpers. Hören Sie mit Ihrem Geist“, fordert Michael Lavocah in seinem Buch Tangogeschichten – was die Musik erzählt auf. In den nachfolgenden Erzählungen über die Orchesterleiter und deren jeweiligen Musikstil beziehe ich mich auf dieses Buch, das ich allen, die sich näher mit Tangomusik beschäftigen wollen, sehr empfehlen möchte.

Diesmal eröffne ich den Reigen mit Francisco Canaro, der mit seinem Orchester am produktivsten von allen war. Er war erfolgreich, beliebt und extrem lange, nämlich mehrere Jahrzehnte, im „Tangogeschäft“. Sein Musikstil ist nicht so ausgeprägt wie bei anderen Orchestern. Ihm waren die sich wechselnden Vorlieben seines Publikums sehr bewusst und er scheute sich nicht seine Musik dem Stil anzupassen, der ihm gerade am populärsten erschien. Es gibt also nicht den typischen Canaro-Sound. Man bezeichnet ihn aber als Meister des Vals. Davon hat er 150 Titel eingespielt und einige dieser Titel sind einfach genial. Bei dem folgenden Musikbeispiel handelt es sich aber um keinen Vals, sondern um einen Tango aus dem Jahr 1935. Die Jahre von 1935 – 1939 waren überhaupt die Zeit, in der er mit seinem Orchester einen Platz an der musikalischen Spitze einnimmt. Es entsteht eine Musik, die Wärme und Zärtlichkeit ausstrahlt, getragen von der ruhigen und sanften Stimme des Sängers Roberto Maida. Das instrumentale Zentrum des Orchesters war der Bandoneonist Minotto Di Cicco. De puro guapo konzentriert sich auf den compas, der ruhig, gleichmäßig und kraftvoll durch das Stück trägt. Der Gesang besänftigt die Stimmung und bildet einen Kontrast zum markanten Taktschlag:

Über Osvaldo Fresedo sagt man: Seine Musik ist süß, manchmal zuckersüß, und romantisch. Zumindest ist das der erste Eindruck und auf viele seiner Stücke trifft es wahrscheinlich auch zu. Fresedo war in eine reiche Familie hineingeboren worden und seine Klientel war, im Gegensatz zu vielen anderen Orchestern, die Oberschicht. So begründete sein Orchester mit einem eleganten und vornehmen Auftreten den „Edel-Tango“ der 1930er Jahre. Es ist die Art Tango, die genau in einen Hollywood Film der 30er Jahre passen würde. Diesem Konzept entsprach die kultivierte und zurückgenommene Stimme des Sängers Roberto Ray perfekt. Von 1933 – 1939 bestand die Zusammenarbeit der beiden und ergab eine „glatte Kombination“. Rückblickend könnte man sagen, Fresedo habe damit Francisco Canaro in seiner Zusammenarbeit mit dem Sänger Maida (siehe oben!) beeinflusst. Osvaldo Fresedo ändert seinen Sound über die Jahre kaum, die Qualität des Orchesters ist gleichbleibend hoch. Wenn man Vida mia aus dem Jahr 1933, gesungen von Roberto Ray, hört, fühlt man sich jedenfalls wirklich in die 1930er Jahre versetzt, zumindest mir ergeht es so:

Den Abschluss dieser kleinen Reihe mit insgesamt sechs Orchestern mache ich mit Ricardo Tanturi, von dem man sagen könnte, er ist eine Kombination von D’Arienzo und Di Sarli, die ich im ersten Teil vorgestellt habe. Einerseits hat sein Orchester den kräftigen, klaren Rhythmus von D’Arienzo. Ricardo Tanturi leitet sein Ensemble vom Klavier aus und sein Klavierspiel ist kräftig und robust, man könnte auch sagen, er haut ziemlich in die Tasten. Andererseits sind bei ihm wie bei Di Sarli die Bandoneons eher unterbesetzt, er lässt die Geigen mehr spielen und zeigt Respekt für die Melodie. Die Melodie ruht auf dem Rhythmus. Das war typisch für die Tangomusik der 1940er Jahre und wurde durch die Zusammenarbeit mit dem Sänger Enrique Campos gefördert. Sein Gesang steht im Dienste der Musik, ist selbstbewusst ohne dreist zu sein. So wird Tanturis Musik besonders gut tanzbar und ruft in mir außerdem Erinnerungen wach. Sein Orchester war nämlich das Lieblingsorchester unserer Lehrerin Aurora Lubíz in Buenos Aires, es wurde in ihren Stunden immer gespielt und ich habe noch ihr begeistertes „Tanturi y Campos“ im Ohr. Nun diese Kombination ist im letzten Musikbeispiel aus dem Jahr 1944 mit dem Titel Oigo tu voz zu hören:

Tangomusik in ihrer Unterschiedlichkeit und ihren Gemeinsamkeiten hat mich immer schon fasziniert. Ich hoffe, ich konnte etwas von dieser Faszination hier teilen, auch wenn mir bewusst ist, dass die Auswahl dieser sechs Orchester nur ein kleiner Teil der großen Tangomusikgeschichte ist.

Andrea

Verwendete Literatur:
Michael Lavocah, Tangogeschichten: Was die Musik erzählt, milonga press

2 Kommentare zu „Klassische Tango-Orchester, Teil 2“

  1. Liebe Andrea,
    danke für diese prägnante Charakterisierung einiger der wichtigsten Tango-Orchester. Jetzt verstehe ich endlich, warum ich d’Arienzo und Di Sarli meist, Canaro aber nicht sicher erkenne 😉. Und Deine Begeisterung für die (traditionelle) Tangomusik teile ich, denn sie enthüllt immer wieder neue Schichten, die ich tänzerisch ausdrücken möchte. Dank Euch ist mir (uns) der Neustart in unser „zweites Tangoleben“ geglückt! Umarmungen aus Münster von Lotta

    1. Liebe Lotta,
      das hast du gut auf den Punkt gebracht mit den Herren D’Arienzo, Di Sarli und Canaro. Wie schön, wenn wir „Geburtshelferinnen“ sein konnten und wie toll, dass ihr drangeblieben seid! Übrigens haben auch wir Danke zu sagen, durch eurer Feedback haben wir die SOLO Einheiten auf der Silvesterreise verändert, sie sind jetzt ohne Choreographie und bieten Raum genau für diese Einheiten zu Musikalität und Improvisation. Alles Liebe euch und viele schöne Tanzstunden, herzliche Grüße, Andrea und Sigrid

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