Immer wieder wird gesagt oder geschrieben, von allen Tänzen sei Tango Argentino am meisten erotisch. Manche verlieren sich sogar in Phantasien und meinen, er sei wie Sex auf der Tanzfläche. Nun, wenn eine oder einer das Stichwort Tango googelt, dann sind die Bilder, die auftauchen sehr klischeehaft, gespickt mit Netzstrümpfen und Rotlicht, geprägt von Sexismus samt Machismo und der Unterwürfigkeit von Frauen. Aber ist das wirklich die Welt des Tango Argentino? Meiner Erfahrung nach wird dieses Bild des Tangos als dem erotischen Tanz schlechthin vor allem dann benutzt, wenn die Werbetrommel gerührt wird für Bühnenshows oder Videoauftritte. Meist ist es die Vorstellung jener Menschen, die selbst nicht Tango tanzen, ein Fremdbild also, gut zu gebrauchen, aber schnell abgegriffen und leer.
Ist also gar nichts dran an dieser Vorstellung? Hat Tango Argentino nichts mit Erotik gemein? Beginnen wir mal ganz altmodisch mit einem Blick ins Wörterbuch: der Duden definiert Erotik als die mit sensorischer Faszination erlebte, den geistig-seelischen Bereich einbeziehende sinnliche Liebe.
Da bleibe ich gleich mal an den Begriffen sensorische Faszination und Sinnlichkeit hängen – etwas, das mir bei den oben erwähnten Klischeebildern sicher nicht einfallen würde, das aber meine Erfahrung des Tangotanzens berührt. Mit offenen Sinnen in diesem Moment des Tanzes zu sein, zu hören, zu sehen und vor allem zu spüren. Mit jedem Schritt den Boden zu ertasten und wie Angela Nicotra sagt, dabei die Erde zu liebkosen, ist ebenso ein Teil dieser Sinnlichkeit wie das Spüren und Berühren jener Person, mit der ich gerade tanze. Nicht zufällig wird die Tanzhaltung im Tango Argentino als Umarmung, el abrazo, bezeichnet – ein Wort, das wir aus der Welt der Erotik und Sexualität kennen, aber auch aus der Welt der Freundschaft. Und nicht nur el abrazo findet sich sowohl im Tango als auch in einer erotischen Begegnung, sondern auch jener Dialog ohne Worte, der Dialog der Körper. Wie intensiv dieser Dialog im jeweiligen Augenblick gestaltet wird, wie sehr die beiden Tanzenden mit Nähe und Distanz spielen und sich aufeinander einlassen wollen, bleibt immer wieder neu auszuloten. In diesem Sinne könnte jenes eingangs erwähnte Zitat, das übrigens aus dem Film Dance! stammt, durchaus zutreffen – Tango zu tanzen ist wie Sex, ein Dialog ohne Worte, und wenn man so will, ist Tango also wie Sex auf der Tanzfläche. Das Problem bei solchen Formulierungen ist leider, dass sie so plakativ und oberflächlich daherkommen. Oder eben mit jenem Tangoklischee verbunden sind, das sich darauf beruft, dass dieser Tanz in den Bordellen von Buenos Aires seinen Ursprung hat. Ich frage mich schon lange, warum die Menschen dort – vor oder nach der erkauften sexuellen Befriedigung im Hinterzimmer – Tango getanzt haben. Das Stillen der Lust ist das eine, aber Sinnlichkeit und das Glück einer Umarmung fanden sie dabei wohl kaum. Diese Sehnsüchte aufzufangen und zu stillen ermöglichte der Tango – in seiner Musik, den Texten und im Tanz.
Wie aber erfahren Tangotanzende heute ihren Tanz? Ich möchte hier zwei Frauen zu Wort kommen lassen, die uns nach einer Kurswoche folgende Texte übergeben haben:
Tango
das ist
Spüren und Berühren
das ist Erde, ist
Musik
Tango
meine Liebe
tanzt mit mir
geht, dreht, steht, fliegt
Musik
Tango
trau dich
in die Nähe
fühle, spüre, berühre mich
dich
Und ich selbst? Sehe ich den Tango als erotischen Tanz? Wann immer es gelingt, mich ganz fallen zu lassen in einen Tanz, in die Musik, in die Begegnung mit dem Du, dann ist Tangotanzen pure Sinnlichkeit. Ein Augenblick, in dem alles andere verschwindet, in dem ich nichts anderes spüre als diese gemeinsamen Bewegungen, fast als wären wir ein Körper und würden im gleichen Herzschlag atmen. Wie in einer Liebesblase über die Erde zu gleiten, getragen von der Musik und der Bereitschaft, ganz bei mir und bei dir zu sein. Ja, das kann prickelnd und erotisch sein! Und ja, es braucht am Ende eines solchen Tanzes ein gemeinsames Auftauchen aus dieser Welt der Sinnlichkeit, ein Zurückkehren in das Hier und Jetzt. Aber nicht jeder Tanz erreicht diese Leidenschaftlichkeit und Hingabe und das ist wohl auch gut so, denn Erotik und Sinnlichkeit sind nun mal nicht alltäglich, sondern zählen zu den besonderen Momenten – im Tango wie im Leben!
Sigrid