Eine Stadt zu unterschiedlichen Jahreszeiten zu erleben, finde ich äußerst spannend. Nachdem wir im letzten Mai ausgiebig den Frühsommer genossen hatten, sind wir jetzt im winterlichen Berlin auf Entdeckungsreise gegangen – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Denn trotz Temperaturen um den Gefrierpunkt und einer recht hohen Luftfeuchtigkeit, mit der die Kälte schnell in die Kleider kriecht, sind wir auch diesmal viel zu Fuß unterwegs gewesen. Für uns ist dies einfach die beste Möglichkeit, um die Atmosphäre einer Stadt aufzuspüren! Und schon nach wenigen Schritten im Bezirk Schöneberg haben wir wahrgenommen, was Berlin im Winter so anders macht: Die meisten Straßen Berlins sind Alleen, gesäumt von Laubbäumen, die im Sommer Schatten spenden und die Stadt grün machen. Nun sind diese Bäume kahl und erst jetzt realisiert man, wie breit die Straßen eigentlich sind. Dieses Gefühl der Weite mitten in einer Stadt hatten wir im Sommer schon in den Parkanlagen genossen, nun zeigt es ich in beinah jeder Straße! Die kahlen Bäume geben jetzt auch den Blick frei, sodass die prachtvollen Hausfassaden der Altbauten sichtbar werden. In Schöneberg, wo wir ja selbst in einer wunderschönen Altbauwohnung zu Gast waren, und in Charlottenburg, das wir auch erwandert haben, gibt es sehr viele, wunderschön renovierte alte Häuser. Als dann am Sonntag die Wolkendecke aufriss und diese prachtvollen Bauten im Sonnenlicht erstrahlten, war das Flanieren gleich noch schöner!
Nun, der Winter setzt uns Stadtwanderinnen aber auch seine Grenzen! Am Wittenbergplatz angekommen, wäre es fein gewesen, bei Witty’s wieder eine köstliche Currywurst und ein Bier, beides hier in Bio, einzunehmen, aber für eine Jause am Würstelstand war es uns doch zu kalt… So landeten wir im KaDeWe – dem Kaufhaus der Superlative! Mit seinen 60.000 m² ist das Kaufhaus des Westens angeblich das größte Kaufhaus auf dem europäischen Kontinent. 80.000 Menschen sollen hier täglich aus- und eingehen, und die angebotenen Waren sind durchwegs edel, fein und teuer. Wir sind aber gar nicht zum Shoppen gekommen, sondern wollten in die Feinschmeckerabteilung im obersten Stockwerk. Hier gibt es alles an Köstlichkeiten, das man sich nur vorstellen kann: unzählige Käse- und Wurstspezialitäten, Champagner- und Weinbars, Restaurants und Gourmetstände in allen denkbaren Varianten: französische oder italienische Küche, bayrisch deftige Bratwürste, Fisch aus der Ostsee, Sushi, Grill oder einfache Hausmannskost. Wir haben uns für letztere entschieden und an einer der Kochinseln, um die herum die Gäste wie an einer Theke sitzen, eine kräftige Kartoffelsuppe gegessen, während unsere SitznachbarInnen riesige Portionen von Bratkartoffeln wahlweise mit Spiegelei oder überbacken mit Käse zu sich nahmen. Ich ließ den Blick schweifen und wollte schätzen, wie viele Personen sich an jenem Freitag Nachmittag auf dieser Etage befanden: mit einem Blick meinte ich mehr als hundert Menschen zu zählen, was hochgerechnet auf die ganze Fläche wohl eine BesucherInnenzahl von weit über tausend ergeben musste. Das Publikum spiegelt eindeutig den Standort des KaDeWe im ehemaligen Westberlin wider – und doch ist die Stimmung nicht förmlich oder gespitzt, sondern bunt und lebendig. Im Mai wären wir nie auf die Idee bekommen, hier für ein Häppchen einzukehren, aber jetzt im Winter war es geradezu perfekt.
Gestärkt und aufgewärmt spazierten wir weiter und mittlerweile war es draußen dämmrig geworden. Da wir nicht weit entfernt vom Bahnhof Zoo waren, entschlossen wir uns statt weiter zu Fuß zu gehen, eine Stadtrundfahrt zu machen – und zwar mit einer öffentlichen Buslinie. Vom Bahnhof Zoo aus kann man nämlich mit der Buslinie 100 an den wichtigsten Sehenswürdigkeiten Berlins vorbei quer durch die Stadt fahren – und das zum Preis einer einfachen Fahrt! Da die meisten Busse dieser Linie Stockbusse sind, braucht es nur ein bisschen Glück, um den Logenplatz im ersten Stock zu erwischen – und wir hatten dieses Glück! So ging es im Abendlicht erst vorbei an der Gedächtniskirche und den Nordischen Botschaften mit ihrer interessanten modernen Architektur, weiter zum Großen Stern mit der Siegessäule mitten im Tiergarten, vorbei am Schloss Bellevue, dann beinahe im Schritttempo durch eine kleine Straße des Parks, die direkt am Haus der Kulturen der Welt und am Reichstagsgebäude mit seiner erleuchteten Glaskuppel vorbeiführt. Nach einem kurzen Weg durch das Regierungsviertel ging es auf den Prachtboulevard Unter den Linden mit Blick auf das Brandenburger Tor. Dann ist es kurzzeitig vorbei mit der schönen Pracht, denn Unter den Linden ist nach wie vor eine riesige Baustelle. Erst am Ende der Route, vorbei an der Museumsinsel und dem Berliner Dom bis hin zum Fernsehturm ist die Fahrt wieder Sightseeing pur. Am Alexanderplatz ist die Endstation der Linie 100. Für den Rückweg bieten sich die Buslinie 200 an, die unter anderem am Potsdamer Platz mit seinen modernen Gebäuden vorbeiführt, oder man nimmt die S-Bahn mit ihren prächtigen, alten Bahnhofshallen aus Glas und der schönen Aussicht auf die Spree. Das alles geht sich mit einem Stundenticket locker aus, wenn man ein Tagesticket hat, kann man natürlich wo immer man möchte, aussteigen und die Fahrt unterbrechen. So, jetzt habe ich doch glatt die Reiseleiterin gespielt und den Touristentipp weitergegeben, der ohnehin schon lange kein Geheimtipp mehr ist …
Wer in diesem Winter in Berlin und vor allem im Bezirk Charlottenburg unterwegs ist, der kommt jedoch nicht umhin, am Breitscheidplatz vorbeizuschauen – jenem Platz vor der Gedächtniskirche, auf dem vor etwas mehr als einem Monat ein Terroranschlag stattgefunden hat. Zahlreiche Blumen und Kerzen markieren den Platz und wir sind betroffen dagestanden, weil diese unfassbaren Geschehnisse, die wir täglich in den Nachrichten hören, plötzlich so greifbar nahe sind. Ich ließ meinen Blick schweifen, vom Blumenmeer und den abgelegten Briefen hinauf zum markanten Anblick der Gedächtniskirche und dachte: Nun gibt es einen Grund mehr, warum sie diesen Namen trägt, denn dieses Ereignis hat sich wohl jetzt schon tief in das Gedächtnis der Stadt eingeprägt. Dann blickte ich mich um, der Verkehr rollte direkt vorbei, Menschen spazierten über den Kurfürstendamm, der hier beginnt. Keine zehn Meter entfernt stand ein Würstelstand, der mit einer kleinen Tafel KundInnen anlocken wollte: HAPPY HOUR 17.00 – 18.00 Uhr. Ob hier jemandem nach Happy Hour zumute ist, bezweifle ich! Aber mein Rundblick hat mir auch klar gemacht: Der Alltag, das Leben geht weiter seinen Lauf, trotz allem, was in unmittelbarer Nähe passiert ist. Und das nächste Frühjahr wird kommen, die Alleebäume werden ihr frisches Grün sprießen lassen und Berlin wird sich wieder verändern …
Sigrid