Es ist soweit – das Thema Tango und die Zeit ist reif für einen Blogartikel! Ein Monat ist verflogen, seit ich darüber schreiben wollte und ich könnte, ganz im Trend der Zeit, über das rasante Tempo klagen, mit dem sich unsere Gesellschaft von einem Jahr ins nächste katapultiert. Oder ich könnte das – leider oft schon abgegriffene – Wort Entschleunigung benutzen, um mich selbst und die Leserinnen und Leser dieses Artikels mit einem imaginären erhobenen Zeigefinger zu ermahnen, doch endlich … Aber genau darum geht es im Folgenden nicht! Es geht um meine Erfahrungen mit dem Tango und um einige sehr persönliche Lektionen, die er mir im Bezug auf das Tempo meines Lebens beschert hat. Und falls sich darin die eine oder der andere wiederfinden kann und ebenfalls zu buchstabieren beginnt, wie es um die Zeit steht, so freut mich das – ohne jeglichen moralischen Anspruch!
Nun, meine Gedanken gehen zurück zu einem Auftritt im Juni in Graz, bei dem eine gute Freundin im Publikum war, die uns danach ihre Eindrücke rückgemeldet hat. Sie hat dabei diese Formulierung „Tango ist Entschleunigung!“ verwendet und gemeint, unser Tanz ist in seiner Langsamkeit ein absoluter Kontrast zu dem, was sich sonst im öffentlichen Raum, in der Fußgängerzone und den Plätzen der Stadt, abspielt. Während um uns herum alles eher schnell, ja hektisch ist, scheinen wir von all dem entrückt zu sein. Mir war dies bis zu jenem Auftritt gar nicht bewusst und, überrascht über diese Wahrnehmung, habe ich diesem Aspekt seither Aufmerksamkeit geschenkt. Und zwar nicht nur bei unseren Auftritten, sondern generell beim Tanzen.
Da der Tango ein Improvisationstanz ist, gibt es keine fixen Abfolgen und die Tanzenden können auch frei mit dem Rhythmus und dem Tempo spielen. Es gibt kein durchzählen der Takte, sondern es können jederzeit Pausen folgen, bei denen die beiden Tanzenden in der jeweiligen Position verharren, sich selbst und sich als Paar, die Musik oder den Text spüren und erst dann wieder weitertanzen. Außerdem kann die führende Person sich in der Gestaltung des Tanzes ganz von der Musik leiten lassen und dabei einmal einem schnelleren Instrument, zum Beispiel dem Bandoneon, in seinem Lauf folgen oder die Bewegungen an ein langsameres Element, vielleicht einen langen, getragenen Part der Geigen, anpassen. Und da sind wir schon bei den Lektionen für mein Leben, die der Tango mir ermöglicht hat! Jeder Mensch hat ja sein eigenes Lebenstempo – es gibt Menschen, die alle ihre Tätigkeiten eher flott und zügig machen und solche, die alles langsam und bedächtig angehen. Letztere werden vom Lebenstempo unserer Gesellschaft häufig angetrieben und können kaum ihr persönliches Lebenstempo realisieren. Ich gehöre zu den schnellen Menschen, nicht selten zu den zu schnellen. Beim Tangotanzen habe ich als Führende deshalb lange Zeit eher auf die schnelleren Impulse in der Musik geachtet und häufig schnellere Schritte eingebaut. Aurora Lubiz, unsere Tangolehrerin in Buenos Aires, hatte das gleich gemerkt und mich immer wieder mit dem Wort pausa aufgefordert, den Tanz langsamer zu gestalten. Im Lauf der Jahre habe ich gelernt, dieses langsamere Tempo im Tanz zu lieben und so wurde das Tanzen für mich zu einem Ruhepol, der sich von meinem schnellen Lebenstempo abhob. Seit drei Jahren tanzen und trainieren wir nun ja regelmäßig und sehr intensiv und siehe da – der Tango hat tatsächlich mein Leben entschleunigt! Ich genieße es, den ruhigen Instrumenten zu folgen, Pausen einzulegen, Zeit zu haben, um mich und uns als Tanzpaar wahrzunehmen und den Tanz gemeinsam entstehen zu lassen – und zwar ruhig und langsam. So ist es uns wohl gelungen, unserem Tanz diesen individuellen Ausdruck der Langsamkeit zu verleihen und diese Entschleunigung auch bei unseren Auftritten spürbar zu machen.
Denn eine weitere Rückmeldung zu unserem wo/men tango act Encuentro, die wir ebenfalls diesen Sommer erhalten haben, bezieht sich auch auf das Thema Zeit: Unser Tanz sei „wie aus der Zeit herausgefallen“ wurde uns gesagt. Nun, die Figur des Andrés blickt tatsächlich nicht auf sein Smartphone, um zu sehen wie spät es ist, sondern auf eine Taschenuhr und der Koffer, den er bei sich hat, ist Vintage. Aber die Requisiten sollen dabei nur das unterstreichen, was sich in der Geschichte abspielt – und da lassen wir unsere beiden Figuren tatsächlich aus der Realität herausfallen, so dass sie sich für einen kurzen Moment wie in Zeitlupe bewegen. Aber auch hier zeigen wir bei unserem Auftritt etwas, was zu den wesentlichen Erfahrungen zählt, die wir beim Tangotanzen immer wieder machen: Ganz im Tanz aufzugehen, Raum und Zeit zu vergessen und nur mehr im Hier und Jetzt, in der Musik und im Tanz zu sein.
Tango ist Entschleunigung! Denn gerade in diesen Momenten spüre ich diese Magie des Augenblickes, die im schnellen Lebenstempo so leicht verloren geht. Und vielleicht ist diese Magie eben nicht nur für mich spürbar, sondern auch für die Menschen, die uns beim Tanz zusehen. Ja, und vielleicht springt ein klein wenig von dieser Entschleunigung auf sie über – mitten im öffentlichen Raum und im rasanten Tempo des heutigen Lebens.
Sigrid