Hola,
auf unserer kleinen Reise konnten wir wirklich ein wenig ausspannen. Während Andrea in dem englischsprachigen Buch, das sie in unserer Wohnung gefunden hat, und das in Buenos Aires spielt, weitergelesen hat, habe ich die Ruhe genossen und meine Gedanken fliegen lassen. Ich bin dabei ein bisschen ins Philosophieren über das Reisen gekommen. Nun sind wir ja schon seit 2 Monaten Reisende und jetzt waren wir auch noch für 2 Tage “auf Urlaub” in Colonia. Diese Unterscheidung zwischen Reise und Urlaub, Reisende oder Touristin zu sein, war meine erste Erkenntnis. Ich möchte ausdrücklich betonen, dass ich damit keine Wertung zum Ausdruck bringen möchte (philosophieren sollte meiner Ansicht nach grundsätzlich wertfrei sein, obwohl ich weiß, dass dies fast nie so gesehen wird; ich denke nur an die sogenannten “großen Philosophen”. Vielleicht konnte ich deshalb beim Studium mit Philosophie nie viel anfangen, aber das ist jetzt ein ganz anderes Thema!) Es geht also nicht darum, die Reisenden und die UrlauberInnen als besser oder schlechter zu bewerten, aber ich meine, es ist wichtig sie zu unterscheiden und dann auch selbst zu wählen, in welcher Position man sich wiederfinden möchte. Als Urlauberinnen in Colonia z.B. waren wir viel mehr auf uns selbst bezogen: wir haben uns ausgeschlafen, sind herumgebummelt und haben alle schönen Bilder in uns aufgenommen, haben die freie Zeit ohne Termine etc. genossen. Kurz, wir waren in einer fremden, schönen, anregenden Umgebung stark auf uns selbst bezogen. Die Frage nach “Land und Leute”, wie das Leben hier sein mag, wie es den Menschen hier im Alltag geht, hat uns in Montevideo und natürlich in der ganzen Zeit hier in Buenos Aires beschäftigt. Da waren und sind wir viel stärker auf das Außen, auf das, was uns umgibt, bezogen als in einem Urlaub. Und interessanterweise sind wir gerade in dieser Situation als Urlauberinnen in ein Touristenlokal mit hohen Preisen und schlechtem Essen getappt. Wir haben es selbst ausgewählt, weil man dort mit Kreditkarte bezahlen konnte …
Das Leben als Reisende hier in Buenos Aires ist nach wie vor spannend. Ich stelle fest, dass eine so lange Reise, wie wir sie jetzt erleben, eine Art “Ausnahmezustand” ist. Erstens bist du aus deinem gewohnten Alltag herausgenommen, in unserem Fall nicht nur in einem anderen Land, einem anderen Kontinent, sondern sogar in einer anderen Jahreszeit angekommen. Du siehst völlig andere – und zum Großteil absolut nicht wünschenswerte – Lebensformen. Du merkst, wie selbstverständlich zu Hause all die gewohnten Annehmlichkeiten wie Strom, Wasser, Internet, … sind. Und wie selbstverständlich wir in Österreich davon ausgehen, dass immer alles funktioniert. Hier in Buenos Aires musst du eigentlich fast immer davon ausgehen, dass du nicht wirklich weißt, was auf dich zukommen wird und ob das, was du vorhast auch so funktionieren wird (denkt nur an unseren “Ausflug” am Neujahrstag). Interessanterweise beobachte ich bei mir selbst, dass ich diesen “Überraschungen” gegenüber immer gelassener werde. Es stört mich nicht wirklich, ich finde es nur absolut skurril und ich komme noch immer nicht aus dem Staunen heraus. Das Wort “Ausnahmezustand” meine ich aber noch in einem zweiten Sinn: auf einer Reise wie dieser bist du gezwungen – und interessanterweise auch dazu bereit – viele Ausnahmen gegenüber deinem gewohnten Leben und seinen Prioritäten zu machen. Damit meine ich nicht, dass hier der Alltag völlig anders abläuft, sondern dass es einfach nicht möglich ist, hier die gleichen Prioritäten zu setzen wie zu Hause. Wenn wir uns hier z.B. wie zu Hause zum Großteil biologisch ernähren wollten, dann wären wir schon verhungert, denn Gemüse, Obst, Brot, Käse und natürlich Fleisch gibt es hier nicht biologisch. Der Gemüseladen ums Eck hat (meistens) eine gute Auswahl, aber wir haben keine Ahnung woher die Lebensmittel kommen und wie sie angebaut wurden. Oder das Stichwort Elektrosmog: zu Hause versuchen wir Belastungen dieser Art weitgehend zu vermeiden, hier steht am Dach des Hauses gegenüber der Handymasten und in unserem Schlafzimmer blinkt die Funkstation für unser WLAN munter vor sich hin. Und wie viel Blei wir mit dieser schmutzigen Luft schon abgekommen haben, lässt sich gar nicht einschätzen. Und trotzdem – wir sind hier Reisende und wir sind bereit diese Ausnahmen in Kauf zu nehmen. Das ändert nichts an unseren Grundsätzen und daran, dass wir zu Hause wieder zu unseren üblichen Maßstäben zurückkehren werden. Warum aber ist man bereit diesen “Ausnahmezustand” zeitlich begrenzt zu akzeptieren? Man hört oft den Spruch, dass das Reisen verändert, dass man anders zurückkehrt als man aufgebrochen ist. Vielleicht sind es diese Verschiebungen der Maßstäbe und des Alltages, die dir deine Einstellungen bewusster machen und die dich entweder dazu führen, Dinge zu ändern oder sie später gleich, aber mit anderem Bewusstsein zu tun.
In unserem Fall kommt ja noch hinzu, dass unsere Reise nicht zweckfrei ist (wobei die Frage ist, ob das nicht meistens so ist, aber nicht immer klar definiert wird). Der Zweck unserer Reise ist der Tango. Und in diesem Punkt kommen wir ganz bestimmt verändert zurück, obwohl es auch hier viele “Überraschungen” gegeben hat. So besteht etwa ein großer Teil unserer Unterrichtseinheiten nicht darin, neue Schritte oder Kombinationsmöglichkeiten zu erlernen, sondern an unserer Körperhaltung zu arbeiten. Wir trainieren das Anspannen von Muskeln, das Lockerlassen der Schultern, die richtige Drehung des Oberkörpers … Wir arbeiten also sehr viel mit uns und unserem Körper und das verändert dich ganz entschieden! Es ist anstrengend und wohltuend zugleich und es bewirkt, dass du dich selbst körperlich und emotional neu spürst. Und der Tango ist reine Kommunikation zwischen den beiden Tanzenden. Auch dieses sich einlassen aufeinander, dieses Hinhören und Sprechen mit dem Körper bringt Veränderung für mich selbst und für uns als Paar.
Aber keine Sorge, so ganz verändert werden wir schon nicht zurückkehren! Und doch, es stimmt: so eine Reise, die macht etwas mit dir! Und ich meine, das ist gut so.
Genug der vielen Gedanken und stattdessen ein herzlicher Gruß
Sigrid