Vor 48 Stunden hat sich Graz, die Stadt, in der wir geboren wurden, zur Schule gegangen sind und nun wieder leben, verändert. Die Stadt hat den Atem angehalten, als sich die Nachricht über den Amoklauf in einem Oberstufengymnasium verbreitet hat. Wir selbst sind glücklicherweise persönlich nicht betroffen, aber die Betroffenheit ist dennoch auch bei uns groß – so nahe, so unfassbar, so unwirklich ist alles. Viele Gedanken, viele Fragen über das Leben und den Tod, viele Erinnerungen gehen mir ständig durch den Kopf. Und so bin ich mit meinen Gedanken plötzlich bei einem magischen Abend vor knapp zwei Wochen, hier in unserem Bezirk Graz-Lend, angekommen, der auf eine ganz andere Weise unfassbar war.
Wir haben einen Abendspaziergang durch unser Viertel gemacht, als wir an einem Café vorbeigekommen sind – genau in dem Moment, als die Türe kurz geöffnet wurde. Und was hören wir? Tangoklänge! Sofort sind wir eingetreten und fanden uns wieder in einem großen Raum mit wenigen Menschen als Publikum und – wie sich dann herausstellte – einem Tangoquartett aus Buenos Aires. Cuero Tango nennen sich die junge Frau und die drei Männer und sie bezeichnen sich als Quartett des Neuen Argentinischen Tangos. Der gemeinsame Wunsch, Teil der kulturellen Bewegung des 21. Jahrhunderts im Tango zu sein, bekannt als das neue goldene Zeitalter, in dem die Schaffung neuer Werke im Mittelpunkt steht, hat sie zusammengeführt. Und tatsächlich, diese neue Tangomusik war überwältigend: kraftvoll, zärtlich, intensiv und ganz ruhig hat sie alle Höhen und Tiefen des Lebens eingefangen. Wir waren fasziniert, wie gebannt und überwältigt von dem Geschenk, so überraschend und ungeplant, genau in diesem Augenblick am rechten Ort zu sein. Und der Gipfel der Überraschung: die junge Frau am Cello stammt aus Österreich und lebt seit 13 Jahren in Buenos Aires!

Nach dem Konzert sind wir durch den Volksgarten nach Hause gegangen und wie immer sind wir dabei am Stupa, einem buddhistischen Heiligtum, vorbeigekommen. Doch schon beim ersten Blick sahen wir, dass an diesem Abend etwas anders war: am Sockel standen unzählig viele Kerzen, die in dieser „blauen Stunde“ eine unwirklich schöne Atmosphäre schufen. Wir sind den kleinen Umweg hin zum Stupa gegangen und eine Weile dort stehen geblieben, als uns ein Mann ansprach. Die Kerzen seien für seinen Vater, der heute – in der Mongolei – gestorben ist und weil er die weite Reise nicht ad hoc antreten kann, möchte er auf diese Weise Abschied nehmen. Wir erfuhren, dass sein Vater 86 Jahre alt war. Der Mann selbst lebt seit 32 Jahren in Graz und sagte im besten steirischen Dialekt: „I bin a Steira!“ Ich weiß nicht, wie lange wir mit ihm vor den brennenden Kerzen gestanden sind – der Mond leuchtete über der Mondsichel am Spitz des Stupa, die Kerzen brannten und wir sprachen mit einem Mann, den wir nicht kennen, über das Leben und den Tod und über das Zuhause sein in Graz.

Nach diesem unfassbaren Ereignis sprechen nun viele Menschen in Graz über das Leben und den Tod, darüber, im falschen Augenblick am falschen Ort gewesen zu sein. Bei einem Spaziergang gestern Abend sind wir am Hauptplatz wieder an unzähligen Kerzen stehen geblieben und ein leuchtender Schriftzug am Grazer Kunsthaus drückte aus, was viele empfinden: nicht in Worte zu fassen: Graz trauert.

Anstelle von Worten kann Musik vielleicht das Unsagbare zum Ausdruck bringen. Seit ihren Anfängen vor mehr als 130 Jahren hat Tangomusik das gebündelt, was Menschen tief bewegt, und bei jenem Konzert von Cuero Tango spürte ich, dass diese Kraft auch im Argentinischen Tango des 21. Jahrhunderts enthalten ist. Ich ahnte nicht, wie notwendig wir alle das bald brauchen werden und höre das Stück Prima Facie heute nochmal ganz anders:
Ob darin Trost zu finden ist? Ob sich Antworten finden lassen? Wohl kaum, aber vielleicht ist diese Musik eine Möglichkeit, um im freien Fall der Gefühle aufgefangen zu werden und wieder zurück zu finden in Raum und Zeit.
Sigrid
Liebe Sigrid, liebe Andrea
danke für das was Ihr erlebt und erzählt habt! Danke für das Nachdenken und das Fühlen , Spüren und Aushalten!
Ich habe noch die unzähligen Folgetonhörner der Polizei- und Rettungswagen im Ohr, die wir von unserer Schule aus wahrgenommen haben.
R.
Ja, es ist so unglaublich nahe. Das gemeinsame Nachdenken und Fühlen und Aushalten und auch darüber Reden ist wohl das einzige, das wir in Graz jetzt tun können.
Liebe Sigrid
Das unfassbare Ereignis in Graz hat mich an das Trauma meiner Stadt Halle Saale erinnert, als ein Terrorist eine jüdische Moschee in der Stadt Angriff.. Zwei Menschen starben.
Die ganze Stadt war im Schockzustand…
Niemand wusste…
Warum?
Weshalb?
Wozu…?
Ich denke auch an den Amokterroristen von Norwegen…
Ich weiss wie es sich anfühlt…
Wenn eine ganze Stadt in Stille verharrt…
Und dennoch… Das Leben geht weiter und pulsiert…
Du hast das sehr schön beschrieben…
Das plötzlich aus einem unerwartetem Winkel.. das Leben sich wieder meldet…
Die Kreise sich wieder schließen..
…. Tango…
Einfache Dinge des Lebens.
Wichtig…
Den Tätern keinen Raum lassen…
Sie gehören nicht zum Leben!
Dennoch..
Für die Angehörigen ist es… Unfassbar.
Das Ereignis in Graz
Hat mich an das Gefühl erinnert..
Als meine Stadt… Den Atem anhielt
Danke, liebe Ulrike, für dein Mitfühlen und Mitdenken!
Lieben ihr Beiden ,
Mit grossem Mitgefühl
Für euch und eure Stadt
Sende ich Herzensverbindungen.
Ahoi mien Bileid!
Aus Hamburg
Danke fürs Teilen
Soviel Unfassbares und soviel Unglaubliches und so viel gelebtes Leben.
Eure Birgit
Danke, liebe Birgit, für deine Zeilen, die uns sehr berühren! Sie öffnen den Blick – weg vom Unfassbaren hin zum Leben – zum gelebten Leben!