Hola,
wieder zurück von unserem “Urlaub” am Meer, schreibe ich nun über die politischen Ereignisse in Argentinien. In den letzten Tagen waren nämlich Tagespolitik und Zeitgeschichte ganz eng verwoben und wir haben einiges mitbekommen von der aktuellen Situation hier.
Während unserer Tage am Meer haben wir mit Patricia und Nestor – zum Teil auch auf Spanisch – nicht nur geplaudert, sondern sie haben ihre Sicht der politischen und wirtschaftlichen Lage beschrieben. Argentinien hatte im 20. Jhd. mehrere Militärregierungen und dazwischen gewählte, sehr populistische Regierungen, die man hier als “Peronismus” – zurückgehend auf Präsident Peron, den Mann von Evita – bezeichnet. Nestor meint, in diesem Land gab es immer ein Auf und Ab, wie eine Pendelbewegung. In den 1990iger Jahren z.B. hat Präsident Menem im Stil des Neoliberalismus das Land ausverkauft und es dabei heruntergewirtschaftet bis zum “Corralito”, der Staatspleite 2001. Danach hat Argentinien sich zwar wieder erholt (für uns fast unvorstellbar, wie ein Staat nach einem Bankrott weiterbestehen kann) aber jetzt ist die wirtschaftliche Lage wieder sehr schwierig. Die Inflation liegt bei 40% im Vergleich zum Vorjahr! Wir haben das selbst schon bemerkt, wenn wir am Bankomat Geld beheben. Bei unserer Ankunft vor einem Monat kosteten uns 1000 Arg. Pesos inkl. Spesen der Bank hier 128€, jetzt sind es nur noch 120€.
Vor diesem Hintergrund stehen nun die Ereignisse der letzten Tage:
Vorgestern, am 10. Dezember, hat die Regierung zu einem großen Fest hier am zentralen Platz, der Plaza de Mayo, vor dem Regierungssitz geladen, um 30 Jahre Demokratie zu feiern. Von 1976 – 1983 war die schlimmste der Militärdiktaturen des Landes im 20. Jhd. Die Militärs wollten das Land “säubern” und “zu den alten Werten” zurückführen. So waren vor allem StudentInnen, KünstlerInnen und Intellektuelle – und davon wiederum die jüngere Generation – massiver Verfolgung ausgesetzt. Zehntausende sind damals “verschwunden”, d.h. auf offener Straße oder am Arbeitsplatz verhaftet worden, in Folterzentren eingesperrt und ermordet und/oder vom Flugzeug aus in den Rio de la Plata geworfen worden. In den Tageszeitungen gibt es heute noch Anzeigen, in denen Familien fragen, wo ihre Kinder/Angehörigen/Väter/Mütter geblieben sind und seit damals demonstrieren bis heute jeden Donnerstag die “Mütter der Plaza de Mayo”, um Gerechtigkeit und Auskunft über das Schicksal ihrer Kinder zu fordern. Neben den Militärs hat laut Patricia auch die Polizei damals eine große Rolle gespielt.
Das Ende dieser Diktatur wurde also gestern mit einem Volksfest – Konzert, Feuerwerk, … – groß gefeiert. Christina Kirchner, die derzeitige Präsidentin von Argentinien, wird übrigens von vielen mit Evita verglichen. Gestern gab es auf der Straße T-Shirts sowohl mit dem Gesicht von Evita als auch von Christina (wie sie hier nur genannt wird) zu kaufen. Die Stimmung war fröhlich, aber ruhig, die Menschen sind in riesigen Gruppen durch die Straßen gezogen, mit Trommeln und Transparenten. (Wir waren nicht beim Fest – da waren uns zu viele Leute, aber auf dem Weg zur Milonga haben wir die Stimmung mitbekommen).
Kurz vor diesem Jubiläumstag haben wir aber eine ganz andere Seite erlebt. Wir waren ja in Mar del Plata, einer großen Stadt am Meer, die zur Provinz Buenos Aires gehört. (Die Stadt Buenos Aires ist eine eigene Provinz und war von dem, was ich jetzt schildere gar nicht betroffen.) Am Sonntag nach dem Abendessen meinte der Kellner schon, wir sollten keinen Spaziergang mehr an der Uferpromenade machen, das sei zu gefährlich, weil die Polizei der Provinz streikt, um eine Lohnerhöhung zu erreichen. Patricia erzählte, dass dies vor einiger Zeit in der Provinz Cordoba auch der Fall war. Am Montag hat sich dann herausgestellt, dass die Polizei in 5 Provinzen gestreikt hat und dass es bereits zu ersten Einbrüchen in Supermärkten gekommen ist. Bald haben wir bemerkt, dass auch in Mar del Plata die meisten Geschäfte zugesperrt hatten, die Türen waren von innen verbarrikadiert und die Auslagen verdeckt, so dass man nicht sehen konnte, welche Produkte hier ausgestellt sind. Die Nachrichtensender haben pausenlos berichtet und es war eine eigenartige Stimmung in den Straßen. Patricia hat das Ganze ein bisschen heruntergespielt, wir wissen nicht, ob sie uns beruhigen wollte oder ob sie es wirklich nicht so wichtig genommen hat. Am Abend dann gab es keinen öffentlichen Verkehr und keine Taxis mehr und fast alle Restaurants hatten geschlossen, weil die Angestellten nicht zur Arbeit kommen konnten. Im Hotel sind viele Gäste vor dem Fernseher gesessen und haben die Nachrichten verfolgt. Die Bilder zeigten geplünderte Geschäfte und Geschäftsleute wurden interviewt. In einer anderen Provinz gab es einen Toten. Wir sind dann nicht mehr mit zum Essen gegangen – das Hotel hat eine Pizzeria ausfindig gemacht, die geöffnet hatte. Am nächsten Morgen wurde mitgeteilt, dass es eine Lösung in den Gehaltsverhandlungen gegeben hat und dass wieder alles okay sei.
Wir sind ohne Probleme zurück nach Buenos Aires gefahren – wo die Regierung sich und das Land gefeiert hat. Der Zeitpunkt des Streiks war natürlich kein Zufall und die Lohnerhöhung war ziemlich schnell gelungen. Übrigens ist es auch nicht erstaunlich, dass die Menschen mehr Lohn wollen, viele hier haben einen zweiten oder sogar dritten Job, um leben zu können. Manche Dinge sind etwas billiger als bei uns in Österreich, aber insgesamt ist das Leben hier nicht leicht zu finanzieren.
So, das ist jetzt ein ziemlich langer Bericht geworden. Für uns war es jedenfalls interessant hinter die Kulissen dieses Landes zu schauen und auch wenn wir nicht direkt betroffen waren, haben wir ein wenig gespürt, wie das Leben in einem Land mit solchen politischen und sozialen Schwierigkeiten ist.
Adios, Sigrid