Ein letztes Mal in dieser Saison haben wir unsere Requisiten und Kostüme vorbereitet, um heute Nachmittag auf der Straße aufzutreten. Beim Ankleiden und Schminken werden wir wieder in unsere Rollen schlüpfen und uns in Andrés und Segundo verwandeln, die sich im Stück „Encuentro“ begegnen. Dann werden wir uns ins Auto setzen, nach Graz fahren und tanzen – auf dem „Pflaster, das für uns die Welt bedeutet“!
Ich weiß, das klingt theatralisch, aber am Ende unserer dritten Saison als Straßenkünstlerinnen trifft nach wie vor das zu, was wir bei unserem allerersten Auftritt, im Mai 2014 ebenfalls in Graz, schon gespürt haben: die Straßenkunst ist einfach unseres! Wir haben seither viele Erfahrungen gemacht, vieles ausprobiert und viel gelernt. Nun sind wir am Ende unseres dritten Lehrjahres und können dankbar auf ein äußerst erfolgreiches Jahr als Straßenkünstlerinnen zurückschauen. Wir sind viel öfter aufgetreten als in den Jahren zuvor und es war spannend an völlig verschiedenen Orten zu tanzen: die Atmosphäre in der Großstadt Berlin, die vertraute Innenstadt von Graz und die Urlaubsorte am Meer in Italien bildeten jeweils einen gänzlich anderen Rahmen. Immer noch ist es nicht ganz leicht den passenden Auftrittsort und die beste Tageszeit herauszufinden. Wir hatten wunderschöne Plätze mit unglaublich tollem Ambiente und viel Publikum, aber manchmal ist es schwierig, die Gegebenheiten richtig einzuschätzen und so waren wir leider auch mal zur falschen Zeit am falschen Ort.
Nach wie vor sind wir fasziniert von den Begegnungen mit dem Publikum! Von den vielen spontanen Gesprächen, die sich nach einem Auftritt ergeben, haben wir ja schon des Öfteren berichtet. Bei einem unserer Auftritte in Italien etwa hat uns ein Paar sehr lange zugeschaut und uns dann in der Pause angesprochen. Sie waren aus Amerika und gerade auf ihrer Hochzeitsreise. Wir plauderten einige Zeit über den Tango und beim Verabschieden sagte die Frau, unser Auftritt sei für sie das Schönste auf der ganzen Reise gewesen – und das bei einer Toskanareise! Weil wir im Auftreten und im Tanzen einfach schon routinierter sind, war es in dieser Saison auch möglich, während wir tanzten Reaktionen aus dem Publikum wahrzunehmen, manchmal aufzugreifen oder zumindest einen kurzen Blickkontakt herzustellen. Vor allem in Italien war dies sehr intensiv, weil die ItalienerInnen sehr offen und emotional sind und wir viele Zurufe mit „bravo“ und „complimenti“ erhielten. Das übertrug sich natürlich auf uns und wir tanzten vielleicht noch eine Spur besser …
Das wirklich Besondere an dieser Saison war aber, dass wir mit unserem ersten wo/men tango act „Encuentro“ erstmals eine Geschichte getanzt haben und so neben dem Tango tanzen auch das Theater spielen Teil unserer Auftritte geworden ist. Uns machte es einfach Spaß, mehr und mehr in die Rollen hinein zu wachsen und im Spiel ebenso kreativ zu werden wie im Tanz. Natürlich ist es bei der spontanen Straßenkunst nicht immer so, dass Menschen das ganze Stück lang stehen bleiben und zuschauen. Oftmals haben wir aber erlebt, dass ZuschauerInnen nicht nur bis zum Schluss geblieben sind, sondern richtig mit den beiden Personen und der Handlung mitgelebt haben, gelacht und sich mit uns über den positiven Ausgang dieser Begegnung gefreut haben. Und natürlich war auch das Spiel mit den Geschlechterrollen spannend, das wir als Herrendarstellerinnen in diesen act mit hinein verpacken. Wiederum im Italien haben wir – aufgrund der Sprache – mehrmals erlebt, dass ZuschauerInnen gerätselt und sogar miteinander diskutiert haben, ob wir nun Männer oder Frauen seien. Und an den Zurufen konnten wir dann erkennen, für wen sie uns halten, denn bei zwei Männern heißt das „Bravo“ auf Italienisch „bravi“ und bei zwei Frauen „brave“. Manchmal waren beide Formen gleichzeitig zu hören und wir freuten uns darüber, dass es uns gelingt zu irritieren, zu genauem Hinsehen und zum Nachdenken anzuregen.
Nun bleibt nur noch jene Frage, die uns schon vor Monaten gestellt wurde, als wir erwähnten, wir seien gerade im „dritten Lehrjahr als Straßenkünstlerinnen“: dauert die Lehrzeit für diesen Beruf drei oder vier Jahre? Auch jetzt, am Ende dieser Saison kann ich sie noch nicht beantworten! Straßenkunst bietet immer Überraschungen und ist immer wieder neu. Womöglich ist die Lehrzeit nie vorbei. Jetzt aber geht es in die Winterpause. Und da wollen wir einen neuen wo/men tango act entwickeln und uns für Straßenkunst-Festivals im kommenden Jahr bewerben. Es wir uns also nicht langweilig werden und auch wenn die Pause gut tun wird, freue ich mich schon jetzt, wenn wir im nächsten Jahr wieder auf dem Straßenpflaster auftreten werden.
Sigrid
Es war ganz wunderbar euch heute zu erleben. Einige Male bekam ich eine “Gänsehaut“ … und dies ist immer dann, wenn mich etwas/jemand tief berührt.
Herzlichst, Irmgard
Das ist wohl das schönste Feedback, das Künstlerinnen am Ende einer Saison bekommen können! Herzlichen Dank!!!