I cry for you, Argentina!

Relativ selten gelangen Nachrichten aus Argentinien in österreichische Medien, nur bevorstehende Wahlen oder Wirtschaftsangelegenheiten sind manchmal für eine kurze Meldung interessant genug. Wenn also, wie Anfang März geschehen, DER STANDARD einen ganzseitigen Beitrag veröffentlicht, dann ist das etwas Besonderes und zugleich ein Gradmesser für die politische und wirtschaftliche Situation in diesem krisenerprobten Land.

Als wir vor etwas mehr als 10 Jahren in Buenos Aires waren, hörten wir immer wieder, dass die Menschen ihr Leben und die Politik Argentiniens als Jo-Jo Spiel bezeichnen – sie sind Krisen gewohnt und sagen selbst: einmal sind wir hoch oben, dann wieder ganz unten! Damals meinten sie, sie seien – nach dem Corralito, dem wirtschaftlichen Tiefpunkt 2001 – im Aufwärtstrend. Nachdem Javier Milei im Dezember zum Präsidenten gewählt wurde, ist das Jo-Jo im freien Fall und rast auf seinen tiefsten Punkt zu. Wann immer ich seitdem News aus Argentinien höre oder lese, denke ich an jene Menschen, die wir dort kennen und frage mich, wie es ihnen in diesen Tagen ergeht. Als nun in dem oben genannten Zeitungsartikel sogar eine Frau, der wir in der Queer-Tango-Szene von Buenos Aires begegnet sind, namentlich genannt und zitiert wurde, habe ich mich zu diesem Blogartikel entschieden, in den neben meinen Gedanken und Erfahrungen die Recherchen vor Ort von Wojciech Czaja aus dem Text Milei schafft den Sozialstaat ab einfließen.

Die Inflation in Argentinien war bereits bei unserem Aufenthalt vor 10 Jahren spürbar und damals mit 30% ungeheuer hoch für unsere Maßstäbe. Derzeit schreiben die Zeitungen von einer jährlichen Inflation von 160 bis 260 Prozent, doch diese Zahlen sind bereits von der Nationalbank beschönigt. Wenige Tage nach der Angelobung des Präsidenten wurden sowohl der Immobilienmarkt als auch der Markt für Lebensmittel, Konsumgüter, Dienstleistungen und sogar Medikamente von jeglicher Preisbindung befreit und sind seitdem explodiert. Im Supermarkt werden die Preise fast täglich angehoben und in den gedruckten Speisekarten der Restaurants finden sich gar keine Preise mehr – per QR-Code ist der aktuelle Stand abrufbar. Die Wohnungsnot hat ein Maximum erreicht, seit Vermieter*innen die Preise frei festlegen und wenn sie möchten auch verlangen können, dass in Dollar oder Euro bezahlt werden muss. In manchen Vierteln, wie etwa San Telmo, sind die Mieten zu Fantasiepreisen mutiert.

Zudem wurden zahlreiche Subventionen und Sozialleistungen gestrichen. Die vielen Pendlerinnen und Pendler zum Beispiel, die in der Großregion Buenos Aires bis zu drei Stunden täglich im öffentlichen Verkehr unterwegs sind, zahlten vor einigen Monaten durch die Stützung des Staates für eine Fahrt 80 Pesos. Derzeit wird dieser Preis Schritt für Schritt angehoben und soll ab Juni bei 757 Pesos liegen, womit auch die Mobilität mit dem öffentlichen Verkehr zum Luxusgut wird.

Was der derzeitige Präsident als Neoliberalismus bezeichnet, wäre vor einigen Jahren wohl Anarchokapitalismus genannt worden. Als das Jo-Jo zuletzt 2001 an seinem tiefsten Punkt angelangt war, verdankte das Land diese Krise der neoliberalen Regierung der 1990er Jahre. Für Gemeinwohl und einen Sozialstaat bleibt da wenig bis gar kein Spielraum. Dies wiederum war immer Teil der Politik peronistischer Regierungen, zuletzt unter Christina de Kirchner. Obgleich es immer wieder und wohl berechtigte Kritik an dem sogenannten Kirchner-Clan gab, dem Korruption und Vetternwirtschaft nachgesagt wurde, war das politische Handeln auf einem Bekenntnis zum Sozialstaat, zahlreichen Unterstützungen, der Sicherung der Pensionen … aufgebaut. Genau das ist den Neoliberalen – nicht nur aber ganz besonders in Argentinien – verhasst. Ob sie frei von Korruption sind und nicht ihr Klientel politisch und finanziell versorgen, soll dahingestellt bleiben, dass sie derzeit den Sozialstaat abschaffen, ist eine Tatsache. Bereits in der kurzen Amtszeit von Milei ist der Anteil der unter der Armutsgrenze lebenden Menschen von 44,7 auf 57,4 Prozent gestiegen. Viele können sich keine Krankenversicherung leisten, wurden bisher aber aus sozialer Kulanz oder durch diverse Fördermittel medizinisch versorgt. Nun dürfen Ärzte, Apotheken und Krankenhäuser keine Notfälle mehr aufnehmen.

Doch nicht nur der Sozialstaat ist am Ende, auch die Demokratie ist in höchster Gefahr. Schon im Wahlkampf hat zwar nicht Milei selbst, sondern eine seine Mitstreiterinnen überraschende Aussagen gemacht. Als Tochter eines Generals der Militärdiktatur von 1976 – 1983 hat sie darauf hingewiesen, dass es an der Zeit wäre, die Verbrechen der linken Guerillas jener Tage ans Licht zu bringen. Kurz nach dem Amtsantritt von Präsident Milei wurden Demonstrationen und Verkehrsbehinderungen jeder Art verboten. Neu eingeführt wurde nun eine Telefonhotline, in der man gratis verdächtige Menschen und Bürgerinitiativen, die zum Beispiel eine Demonstration planen, anonym melden – oder besser gesagt – denunzieren kann.

Genau diesen Bereich der Menschenrechte spricht die Filmproduzentin Liliana Furió an, die wir auf Milongas persönlich kennen gelernt haben. Sie hat mehrere Dokumentarfilme über die queere und feministische Lebenskultur von Buenos Aires gemacht, wie zum Beispiel 2016 den Film Tango Queerido. Heute sagt sie: „Vieles, was wir sozial und kulturell in den letzten Jahrzehnten aufgebaut haben, wird nun mit einem Schlag zunichte gemacht. … Die Politik Argentiniens ist ein Experiment. Wir sind zu Versuchskaninchen für neoliberale Staatsführung geworden, die die Spaltung der Gesellschaft und die Gewinnmaximierung für eine kleine, privilegierte Minderheit zum Ziel hat. … Entweder wir kriegen noch die Kurve, oder aber wir sind auf dem besten Weg zum Bürgerkrieg.“

Bleibt also zu hoffen, dass die Menschen in Buenos Aires, die viele Tiefpunkte erlebt und überstanden haben, weiterhin daran glauben, dass das Jo-Jo funktioniert und es wieder aufwärts gehen wird. Einstweilen versammeln sie sich trotz des Verbotes auf der Straße, zu Tausenden demonstrieren sie mit Kochtöpfen und Kochlöffeln lautstark gegen Mileis Politik, wie sie es auch während des Corralito 2001 gemacht haben. Der damalige Präsident Fernando de la Rúa ist nach diesen lautstarken Protesten zurückgetreten und per Helikopter aus Buenos Aires geflohen. Ich könnte mir vorstellen, dass viele Menschen im heutigen Buenos Aires sich wünschen, dass sich dieser Teil der Geschichte bei Präsident Javier Milei wiederholen möge. Und dass Liliana Furió recht behält, und Argentinien noch die Kurve kriegt!

Sigrid

PS.: Wenn du Lust hast reinzuhören, was weitere Stimmen der Queer-Tango-Szene in Buenos Aires zur momentanen Situation sagen – wir haben soeben einen Hinweis auf die Radiosendung Queerer Tango versus Kettensägen-Präsident erhalten.

Quelle: Wojciech Czaja, Milei schafft den Sozialstaat ab, DER STANDARD, 8. März 2024

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Cookie Consent mit Real Cookie Banner