The artist is present

Das ist der Titel einer Performance von Marina Abramovic, die man als „Mutter der Performance-Kunst“ bezeichnet. Es ist nun zwar fast 10 Jahre her, dass sie im Rahmen einer Ausstellung über ihre Kunst im MoMa in New York diese Performance gab, aber ich denke das Thema der Präsenz ist aktueller denn je.

Nun, bei dieser Ausstellung, die unter anderem Videos ihrer älteren Arbeiten und von Student*innen nachgestellte Performances zeigte, war Abramovic selbst präsent: Während der gesamten Ausstellungsdauer saß sie drei Monate lang, sechs Tage die Woche, jeweils sieben Stunden in der Mitte des Atriums bewegungslos auf einem Stuhl. Einzeln konnten Zuschauer*innen sich ihr gegenüber setzen, um mit ihr in einen „geistigen Dialog“ zu treten. In einem Dokumentarfilm mit dem gleichnamigen Titel kann man mit verfolgen, was dieses Präsentsein der Künstlerin beim Publikum bewirkt und ausgelöst hat bzw. wie sie sich darauf vorbereitet hat. Ein sehr spannender Prozess! Das zeigt sich schon in der Aussage von Marina Abramovic dazu: „Das Schwierigste ist, etwas zu tun, das dem Nichtstun nahe kommt.“

Aber warum erzähle ich eigentlich davon? Weil das Thema der Präsenz auch im Tango ein wesentliches ist. Und wir uns als Künstlerinnen natürlich auch immer wieder damit auseinandersetzen. Abramovic meint mit dieser Präsenz, in einen anderen Bewusstseinszustand zu kommen, das Bewusstsein einer erhöhten Aufmerksamkeit für sich selbst und die gegenwärtige Umgebung zu entwickeln. So bereitet sie die Student*innen, die für die oben genannte Ausstellung ihre Performances nachstellen, mehrere Tage lang mit Achtsamkeits- und Wahrnehmungsübungen, zum großen Teil in freier Natur, vor. Dieses GANZ DA SEIN im HIER UND JETZT ist nämlich eine ziemlich schwierige Sache, vor allem in unserer schnelllebigen und von digitalen Medien dominierten Zeit.

Vielleicht ist auch deshalb der Tango gerade so beliebt. Denn Angela Nicotra sagt in ihrem Buch Im Kontakt mit der Realität: Der Tango steht für die Möglichkeit, ganz in der Realität, also da zu sein, in einer Realität des Raumes, der Zeit und der Form.

Wir haben heuer im Sommer bei einem Auftritt versucht, diese Art der Präsenz zu verkörpern. Die Tangobilder von Renate Mehlmauer, ich habe davon in einem anderen Blogartikel schon erzählt, haben uns dazu inspiriert. Und auch die Performancekunst von Marina Abramovic war uns Inspiration – auch wenn ich weiß, dass wir Welten von ihrem künstlerischen Format entfernt sind. Bei besagtem Auftritt ist uns diese Präsenz und ein Möglichst-wenig-tun, glaube ich, ganz gut gelungen. Viel schwieriger ist es allerdings bei Straßenauftritten: wenn plötzlich Kirchenglocken zu läuten beginnen, ein Einsatzfahrzeug mit Folgetonhorn vorbeifährt, ein kleines Kind uns zwischen die Beine läuft, … dann selbst präsent zu bleiben, nicht heraus zu fallen, gelingt uns nicht immer. Aber es ist eine wunderbare Herausforderung, es zu üben, immer und immer wieder. Der Tangotanz an und für sich gibt uns dazu ständig die Gelegenheit.

Ich zitiere noch einmal Angela Nicotra. Im Tango erleben wir eine andere Qualität der Zeit: alles, was nicht Tanz ist, bleibt außen, ein Gefühl für das Unendliche entsteht, weil Tango ausschließlich im Hier und Jetzt geschieht.

Das kann man sicher auch bei vielen anderen Tätigkeiten erleben, etwa beim Yoga, um nur ein Beispiel zu nennen. Der Tango ist, wie viele Arten der Meditation, ein Arbeiten an der Achtsamkeit und am Bewusstsein für sich selbst und die Welt. So schließt sich der Kreis vom Bewusstseinszustand, den Marina Abramovic beschreibt, bis zu dem, den Tangotänzer*innen erleben und den wir als Künstlerinnen mehr und mehr erlangen.

Andrea

Literatur- und Filmtipp:
Im Kontakt mit der Realität, Angela Nicotra, Logos Verlag Berlin
The artist is present, Marina Abramovic, 2012

1 Kommentar zu „The artist is present“

  1. Sehr spannender Artikel. Ich finde Marina Abramovic ohnehin beeindruckend und eure Wahrnehmung des Tango als eine Art der Meditation durch die Präsenz, die er fordert und mit sich bringt, gefällt mir sehr.

    Dafür liebe ich das Bloggen und Bloglesen: es erschließt mir zuweilen gedankliche Verbindungen, auf die ich selbst gar nicht gekommen wäre!?

    Herzlichen Gruß, Sarah

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