Die Weite suchen

Es ist schon verrückt: da geht ein langgehegter Wunsch in Erfüllung, just zu einer Zeit, in der dieses Glück so gar nicht angebracht erscheint. Weil die Umstände scheinbar nicht passen, weil es fast zynisch wäre, gerade jetzt in diesem Artikel davon zu erzählen, weil einfach alles so skurril ist in diesen Tagen. Wovon ich eigentlich rede? Davon, dass wir seit vielen Jahren, wenn wir Ende November mit TANGO AM MEER hier in Opatija sind, eine ganz besondere Wanderung machen und davon berichten wollen, aber dieser Wunsch bisher nie realisiert werden konnte. Jetzt sind wir gerade wieder hier im Hotel Miramar – und wir haben den Vojak bestiegen! Aber können wir in diesen Tagen darüber einen Blogartikel schreiben? Während zu Hause in Österreich nicht nur das Wetter novembernebelgrau, sondern auch die Stimmung der Menschen am Tiefpunkt ist? Während Europa mitten in der vierten, dieser nicht mehr erwarteten, Coronawelle gefangen ist und die Gefühle hin- und herspringen zwischen Traurigkeit, Wut und Sorge? Ja, ich kann und will gerade jetzt von diesem Tag im Paradies erzählen, um nicht zu vergessen, dass es auch das noch gibt: Glück, Dankbarkeit, Schönheit!

Der Vojak ist mit 1400 Metern die höchste Erhebung im Učka-Gebirge und zugleich der höchste Berg Istriens. Von Opatija aus sind wir zuerst mit unserem kleinen Fiat mehr als 900 Höhenmeter auf den Poklon-Pass gefahren. Es war ein strahlend schöner Herbsttag, ja, wir hatten ordentlich Sonnencreme aufgelegt, und sind gleich losgewandert. Der Weg führte – wie zuerst die Straße – in unendlich vielen Serpentinen durch einen lichtdurchfluteten Buchenwald. Die silbergrauen Baumstämme, dahinter der blaue Himmel, die weißen Kalkfelsen dieser Karstlandschaft und ein Teppich aus Buchenblättern wirkten als Gesamtbild entrückt, unwirklich, fast wie eine Theaterkulisse. So schön es war, den Blick schweifen zu lassen, wir mussten auf den Boden schauen und jeden Schritt behutsam setzen, denn die Blätter raschelten nicht nur, sondern waren ein äußerst rutschiger Untergrund. So merkte ich bald, dass dieses Gehen dem Gehen im Tango sehr ähnlich war: jeden Schritt bewusst zu setzen und ihm die volle Aufmerksamkeit zu widmen, ganz im Hier und Jetzt zu sein.

Nach 1 ½ Stunden Gehzeit und weiteren 500 Höhenmetern erreichten wir den Gipfel mit dem kleinen Aussichtturm aus Stein. Also sind wir noch einige Stufen hinaufgestiegen und dann – ein 360° Rundblick zwischen Meer und Land: Vom Triglav über die Karnischen Alpen und die Gipfel der Dolomiten über ganz Istrien hinweg zu den Inseln der Kvarner Bucht, dem Velebit-Gebirge bis Rijeka! Nicht nur die Schönheit war überwältigend, sondern vor allem dieses Gefühl der Weite. Bei all der Enge, die wir seit 20 Monaten erleben, bei der Ungewissheit wie es weitergehen wird, bei der Erfahrung, dass es nötig ist, unsere Freiheit zu begrenzen, diesen Moment zu erleben, war beinahe magisch und auf jeden Fall unendlich wohltuend.

Beim Abstieg wurde mir klar, dass wir trotz allem diese Momente suchen und finden können, dass sie uns – vielleicht zu einem nicht erwarteten Zeitpunkt – geschenkt werden! Für uns war es diese Wanderung auf den Vojak, aber es könnte auch ein ganz anderer Ort sein.

Sigrid      

1 Kommentar zu „Die Weite suchen“

  1. Danke?? Ja, ich erlebe das immer wieder ähnlich in diesen Tagen. Etwas Wunderschönes leuchtet auf – und ich wage es fast nicht auszusprechen. ?? Und dann wieder weiß ich, dass wir davon leben. Ich meine vom Erleben solcher Lichtblicke und dem Mit Teilen solcher Erfahrungen. Also danke für euren Blogbeitrag ??Hans-Jürgen

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