Wie will ich leben?

Ist diese Frage nicht vermessen? Zugegeben, sie spiegelt unsere privilegierte Lebenssituation in einem reichen europäischen Land wider, denn wir wissen alle, dass Millionen von Menschen sich den Luxus dieser Frage gar nicht leisten können. Und dennoch, ich glaube, dass auch bei uns viele Menschen sich kaum die Muse nehmen, diese Frage immer wieder mal durchzudenken, um sich klar zu werden, wie sie ihr Leben gestalten möchten. Denn im Unterschied zu früheren Generationen, in denen die Berufswahl und der Familienstand als wesentliche Eckpfeiler des Lebens meist vorgegeben waren, können wir unser Leben heute viel freier und individueller gestalten – wenn wir uns dies bewusst machen und die Konsequenzen dieser Entscheidungen bedenken. Als Lehrerin in der Berufsschule wählte ich das Thema „Wie will ich leben“ für eine der letzten Unterrichtseinheiten der Abschlussklassen. Die angehenden GärtnerInnen standen kurz vor ihrer Lehrabschlussprüfung und für viele stellte sich die Frage, ob sie in diesem Beruf bleiben wollen, ob sie eine Familie gründen oder ob andere Lebensziele in ihnen schlummern. Es war immer wieder spannend zu erleben, wie schnell den jungen Leuten klar wurde, dass ihre Träume konkrete Konsequenzen bringen werden: wenn mir Geld wichtig ist und ich viel verdienen möchte, wird es kaum möglich sein, einen Job zu haben, bei dem mir viel Freizeit bleibt. Was also ist mir wichtiger – freie Zeit oder Geld? Wenn ich eine Familie gründe, dann wird es schwierig, mich voll auf eine Karriere zu konzentrieren – auch wenn sich diese Frage bisher eher Frauen als Männer stellen mussten, denn kaum ein Manager wurde je gefragt: „Wie bringst du einen 80 Stunden Job in Einklang mit deinem Vatersein?“ Und wenn ich ein Haus mit großem Garten haben möchte, wird aus langen Reisen und Spontanität auch nicht viel werden. Also: wie will ich leben?

Wir, Andrea und ich, sind die besten Beispiele dafür, dass sich diese Frage nicht nur beim Eintritt ins Berufsleben – so wie für meine ehemaligen SchülerInnen – stellt, sondern dass es immer wieder im Leben spannend sein kann, darüber nach zu denken und dann kleinere oder, wie in unserem Fall, auch größere Veränderungen vorzunehmen. Wenn man sich zu solchen Veränderungen entschließt, ist es oft hilfreich, zu erfahren, wie es anderen dabei ergangen ist. Kürzlich ist mir ein Buch in die Hände gefallen, das dieser Frage äußerst amüsant nachgeht. Der Untertitel zeigt schon, dass hier so manches über den Kopf geworfen wird: Die Kunst, ein kreatives Leben zu führen und dabei Geld zu verdienen. Tom Hodgkinson gibt in Business für Bohemiens auf unterhaltsame Art seine persönlichen Erfahrungen zu diesem Thema wieder. Immer wieder wagt er den geistigen Spagat zwischen fundiertem Fachwissen und klarer Information einerseits und humorvollen Anekdoten rund um sein Unternehmen und seine Ansicht von einem glücklichen Leben andererseits. Er zeigt auf, dass die Frage „Wie will ich leben“ durchaus nicht neu ist: Die alten Griechen hatten ein ethisches Prinzip, das als eudaimonia bezeichnet wurde. Es bedeutet Glückseligkeit im Sinne von Erfüllung. … Sie sollten darüber nachdenken, woraus Ihr „gutes Leben“ bestehen könnte.

So wie ich meinen SchülerInnen, so macht er seinen LeserInnen den Vorschlag, sich genau dafür Zeit zu nehmen: Jetzt rate ich Ihnen, einen langen Spaziergang zu machen und über Ihr Leben nachzudenken. Wenn Sie wieder nach Hause kommen, setzen Sie sich mit einem Notizblock hin und schreiben auf, was Sie tun möchten und wie Sie leben wollen. Was macht Ihnen Spaß und was verschafft Ihnen Befriedigung? Wie würde Ihr idealer Tag aussehen? Und er verheimlicht auch nicht, dass die Antworten auf diese Fragen mit ganz konkreten Konsequenzen verbunden sind. Materielle Dinge, viel Geld und Besitz sind ihm nicht wichtig – es reicht ihm, wenn er sich abends sein Bier im Pub um die Ecke leisten kann und anstelle weiter Urlaubsreisen mit der Familie ein Picknick im Grünen macht.

Auch für uns hat die Entscheidung das Leben zu ändern, einen sicheren und gut bezahlten Beruf aufzugeben und unserem Traum zu folgen, materielle Auswirkungen gebracht. Aber auch wenn wir uns finanziell zur Zeit weniger leisten können, so sind wir der Meinung, den größten Luxus haben, den es in unserer westlichen Welt geben kann: Wir leben nicht nur unseren Traum, wir erleben viele ideale Tage mit einem Tagesablauf, der uns entspricht und einem Arbeitsalltag, an dem wir Zeit haben für scheinbar so selbstverständliche Dinge wie ein gemütliches Frühstück und ein selbst gekochtes Mittagessen. Der Konsum wird für uns immer weniger wichtig, wir merken, dass wir kaum mehr daran interessiert sind. So fällt es absolut nicht schwer auf Materielles zu verzichten. Denn so leben zu können, wie ich will, ist einfach der pure Genuss – und wohl auch ein ziemlicher Luxus. Aber eigentlich geht es nur um die Frage, wie die Konsequenzen einer Veränderung im Leben aussehen, und ob ich mit diesen gut leben kann. Dann steht der eudaimonia, der Glückseligkeit im Sinne von Erfüllung nichts mehr im Wege.

In diesem Sinne wünsche ich: „Ein gutes Leben!“

Sigrid

 

Verwendete Literatur: Tom Hodgkinson, Business für Bohemiens, Verlag Kein & Aber

 

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